Aufstand in Syrien: "Wir sitzen auf einem Vulkan"

Kaum jemand der syrischen Oppositionellen glaubt noch, dass der Sturz des Regimes friedlich gelingen kann. Die Angst vor einem Bürger- und Religionskrieg geht um.

Protest gegen das syrische Regime in Kairo. Bild: dapd

Vor etwa zwei Monaten sind Sami die Veränderungen zum ersten Mal aufgefallen. Da waren zum Beispiel diese Männer, die mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Der junge Mediziner weiß genau, wer sie sind. Sie tragen Tätowierungen auf den Armen: das Gesicht von Präsident Baschar al-Assad. "Schabiha", sagt Sami, "erst kamen sie vereinzelt, dann immer häufiger." Schabiha sind die Schlägertrupps des Regimes, Todesschwadronen, sagen manche Aktivisten. Seitdem die Proteste ausgebrochen sind, terrorisieren sie die Menschen in Samis Heimatstadt Homs.

Sami selbst ist in diesem Sommer von ihnen überfallen worden, weil er verletzte Demonstranten behandelt. Die Milizen traten seine Haustür ein und stießen ihm ein Messer in die Seite. Es sollte eine Warnung sein. Der Arzt überlebte. Als seine Wunden verheilt waren, ging er sofort wieder arbeiten. Er hat schließlich einen Eid geschworen, sagt Sami knapp. Deswegen versorgt er auch die Schusswunden der Schabiha.

Die Schergen des Regimes werden offenbar zunehmend selbst Ziel der Gewalt. Sami ist klar, was das bedeutet, und das macht ihm Angst. Denn das, was Sami in der Notaufnahme seiner Klinik sieht, kann als Indikator für die Entwicklung des Aufstands gelten. "Die Leute haben begonnen, zu den Waffen zu greifen", sagt er. "Die Brutalität des Regimes lässt ihnen keine Alternative."

Samis richtiger Name muss verschwiegen werden, um ihn zu schützen. Die Aussagen des Mediziners lassen sich nicht prüfen. Doch derzeit verdichten sich die Hinweise, dass die bislang überwiegend friedlichen Proteste dabei sind, in einen bewaffneten Aufstand umzuschlagen. "Syrien steht an einem Wendepunkt", sagt Peter Harling, Direktor der International Crisis Group in Damaskus. "Das Regime kennt keine andere Politik, als den Grad der Gewalt immer weiter zu erhöhen." Damit, meint der politische Analyst, bleibe den Demonstranten letztlich keine andere Wahl als die bewaffnete Konfrontation: "Die Menschen sind mittlerweile in einem Stadium angelangt, in dem sie schlicht nicht noch mehr Gewalt ertragen können."

Die Free Syrian Army

Dabei scheinen desertierte Soldaten den bewaffneten Konflikt maßgeblich mit anzuheizen. In den vergangenen Monaten haben sich Tausende Überläufer zur Free Syrian Army zusammengeschlossen. Nach Angaben von Oppositionellen soll der Verbund mittlerweile 10.000 Kämpfer umfassen. Sie agieren nun immer selbstbewusster - und gewalttätiger. Erst am Mittwoch überfielen sie einen Stützpunkt des Luftwaffengeheimdiensts in Harasta nahe Damaskus. Augenzeugen zufolge sollen sie das Gebäude über Stunden mit Granatwerfern beschossen haben.

Die Attacke scheint nicht besonders effektiv gewesen zu sein, doch das Ziel hat symbolische Bedeutung: Der gefürchtete Luftwaffengeheimdienst spielt bei der Niederschlagung der Proteste eine Schlüsselrolle. Zudem war der Angriff Teil einer ganzen Serie von Angriffen in dieser Woche. Erst am Montag wurden bei Gefechten zwischen Überläufern und der Armee in der südlichen Provinz Daraa 34 Soldaten, 12 Deserteure und 23 Zivilisten getötet. Offenbar operiert die Free Syrian Army in kleinen Zellen, die sich hauptsächlich in Daraa, in der Provinz Idlib und der Industriemetropole Homs sammeln.

Vor allem Homs, Syriens drittgrößte Stadt, scheint sich zu einem Zentrum des bewaffneten Aufstands entwickelt zu haben. Wie wirksam die militärische Gegenwehr sein kann, zeigte sich zu Beginn des Monats während einer Offensive der Armee in der Industriemetropole: Die Angriffe konzentrierten sich Anwohnern zufolge auf das Viertel Bab Amro, wo sich Dutzende Deserteure verschanzt hatten. So, wie es Augenzeugen beschreiben, versank das Viertel zeitweise im blutigen Chaos, als schwere Häuserkämpfe zwischen marodierenden Soldaten und Guerillakämpfern ausbrachen.

Die Armee brauchte ganze sechs Tage, ehe sie den Vorort eingenommen hatte. "Es waren die schlimmsten Angriffe seit Beginn unserer Revolution", sagt Mohammed, ein Aktivist, der nahe Bab Amro lebt. "Die Soldaten haben die Siedlung eingekreist und wie verrückt auf alles geschossen, was sich bewegt."

Mikrokosmos der Gewalt

Keine andere Stadt in Syrien hat der Konflikt so heftig getroffen wie die Eine-Million-Einwohner-Stadt. Der acht Monate alte Konflikt hat dort bislang rund 600 Todesopfer gefordert, 130 davon allein im November. Die Stadt ist zu einem "Mikrokosmos der Gewalt" geworden, schreibt Human Rights Watch in einem Bericht. Der Widerstand der Regimegegner bleibt ungebrochen, aber kaum jemand glaubt noch, dass der Sturz des Regimes mit friedlichen Mitteln gelingen kann. Der Ruf nach einer Nato-Intervention ist lauter geworden.

Doch mit einer solchen Intervention ist nicht zu rechnen. Derweil tun die demokratischen Aktivisten ihr Möglichstes, die Menschen davon abzuhalten, eigenmächtig die Waffen zu erheben. "Wir versuchen, den Leuten diese Idee auszutreiben", sagt Mohammed. "Aber viele von ihnen haben ihre Brüder, Väter oder Söhne verloren. Ihre Wut lässt sich nur schwer unter Kontrolle halten." Führende Aktivisten beharren nach wie vor darauf, dass die Demonstrationen weiterhin friedlich verlaufen.

Dennoch hat der Aufstand eine gewaltsame Seite entwickelt. Es ist schwer zu ermitteln, wie weit die Militarisierung wirklich geht. Fest steht, dass das Vorgehen des Regimes und die Übergriffe der Opposition in keinem Verhältnis zueinander stehen: Nach UN-Angaben sind bislang insgesamt 3.500 Zivilisten gestorben; das Regime spricht dagegen von rund 1.000 getöteten Soldaten und Sicherheitskräften, wobei es nicht möglich ist, diese Zahl zu bestätigen.

Vor allem in den Städten Homs und Hama häufen sich derzeit Guerillaattacken. Niemand weiß, wer genau die Angriffe verübt. Berichten zufolge haben sich auch Zivilisten zu bewaffneten Zellen formiert. Und demnach werden bereits seit Monaten Waffen aus dem Libanon nach Homs geschmuggelt. "Wir beobachten eine Militarisierung auf sehr primitiver Ebene", sagt der syrische Menschenrechtsaktivist Wissam Tarif. "Es handelt sich meist um Überfälle und Hinterhalte kleiner Guerillagruppen, die in Homs und seinen Vororten agieren."

Doch der bewaffnete Aufstand birgt erhebliche Risiken. Denn die Anschläge stützen die Argumentation des Regimes in Damaskus, dass "bewaffnete Terrorbanden" für die Gewalt verantwortlich sind. Ohnehin bezweifeln Beobachter, dass die Opposition der Armee militärisch auch nur annähernd gewachsen sein könnte. "Die Leute gehen mit Messern raus, mit Schrotgewehren, Jagdflinten und manchmal mit Kalaschnikows", sagt Hamsa, ein Aktivist aus Homs. "Wenn wir nur die richtige Ausrüstung hätten, könnte man eine schlagkräftige Armee bilden. Den nötigen Antrieb, die Überzeugung und die Ausbildung haben die Leute."

Religiöser Hass nimmt zu

Angefangen, sagt Hamsa, habe die Entwicklung vor wenigen Monaten, als in Homs sowie in Idlib "örtliche Schutzkomitees" gegründet wurden. Das Ziel dieser Gruppen sei zunächst gewesen, die Menschen während der Demonstrationen vor Angriffen der Sicherheitskräfte zu beschützen. Dann jedoch drang die Schabihamiliz immer häufiger in die Wohnviertel der Aufständischen ein. Aktivisten verschwanden, Frauen sollen systematisch vergewaltigt worden sein, Familien mussten zu Tode gefolterte Angehörige identifizieren.

In der Folge sollen sich die örtlichen Schutzkomitees zu einer Art Nachbarschaftswache entwickelt haben. "Die Leute stellten fest, dass ihre Gegend von Informanten des Geheimdienstes durchsetzt ist", schildert Hamsa. "Sie sammelten die Namen auf Listen und begannen, die Spitzel zu fangen und zu verprügeln. Als das nicht half, gingen sie dazu über, sie zu töten." Human Rights Watch hat die Existenz bewaffneter Schutzkomitees in Homs in seinem Bericht bestätigt.

Zugleich aber treibt die Militarisierung eine Spirale der Gewalt voran, die sich nun immer schneller dreht. Die Eskalation droht das Land zu spalten. In Homs haben die Spannungen zwischen den Religionsgruppen bereits gefährlich zugenommen. Die Angst vor einem Bürgerkrieg geht um. Denn der Assad-Clan gehört der alevitischen Sekte an, auch die Schabiha werden überwiegend in alevitischen Vororten rekrutiert. In Homs hat die Zahl der offenbar religiös motivierten Gewaltakte bereits rapide zugenommen. Die Stadt ist eine Art Syrien im Kleinen: Eine sunnitische Mehrheit lebt mit starken alevitischen sowie christlichen Minderheiten zusammen.

Anfang November sollen Unbekannte elf alevitische Fahrgäste aus einem Bus entführt und mit Äxten getötet haben. In der Folge stürmten Bewaffnete in eine Papiertaschentuchfabrik und ermordeten neun sunnitische Arbeiter sowie den Inhaber. Seither soll es auf beiden Seiten zu Dutzenden Morden und Vergeltungstaten gekommen sein.

"Im Moment landet alle ein bis zwei Tage ein Todesopfer bei uns im Krankenhaus. Sie werden mit Kopfschuss in den Straßen der alevitischen oder sunnitischen Siedlungen aus dem Auto geworfen", sagt Sami, der junge Arzt. Dabei verwischen die Grenzen zwischen politischer und religiöser Gewalt: Häufig ließe sich nicht feststellen, ob jemand getötet wurde, weil er für einen Schabihamilizionär gehalten wurde oder weil er Alevit war.

"Das Problem ist, dass die alevitischen Wohnviertel Brutstätten für Schabiha sind", meint der Mediziner. Mittlerweile sei das Misstrauen so groß, dass sich alevitische Patienten nur noch von alevitischen Ärzten behandeln lassen, und sunnitische von sunnitischen. "Wir sitzen hier auf einem Vulkan", sagt Sami. "Wir steuern auf einen jahrelangen Krieg zwischen den Religionsgruppen zu."

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