Neue Kommune Witzenhausen: Wie die Krise in die Kleinstadt kam

Madrid, New York und Frankfurt sollen die globalen Krisenzentren sein. Doch auch in der nordhessischen Provinz treffen die Bürger auf den Kapitalismus.

Das "Fachgeschäft für Weltrevolution" und seine Freunde. Zu kaufen gibt es hier nichts. Bild: Martin Kaul

WITZENHAUSEN taz | Ob diese Kapitalismuskrise in Witzenhausen beginnt oder ob sie hier endet, das lässt sich schwer sagen.

Es ist ein kalter, dunkler Spätnachmittag im Winter. Über dem Kopfsteinpflaster der Innenstadtgassen lassen die Weihnachtslichter die Fassaden alter Fachwerkhäuschen aufscheinen. Die Sonne ist untergegangen, die Bäckersfrauen räumen das letzte Brot des Tages aus den Regalen. Nur in einem der Geschäfte in der Ermschwerder Straße geht es noch laut zu.

Es ist das "Fachgeschäft für Weltrevolution", so zumindest nennt sein Betreiber Hans Spinn diesen Krämerschuppen, seine Ideenschmiede. Er lacht schelmisch in sich hinein. "Spinnen", sagt er, "das ist auch ein Handwerk." Geht es nach Hans Spinn, dann darf die bunte und friedliche Weltrevolution hier und heute beginnen. Gerne auch in Witzenhausen. Nötig wäre es.

15.500 Einwohner hat die alte Gemeinde in Nordhessen. Die Regionalbahn hält hier, die Werra fließt durch den Ort, Kirschbäume stehen an den Hängen. Wer etwas über ökologische Landwirtschaft erfahren will, ist in der kleinsten Universitätsstadt Deutschlands gut aufgehoben.

Hier, wo sie stolz darauf sind, die Biotonne erfunden zu haben, treffen zwei ganz gegensätzliche Elemente der Kapitalismuskrise aufeinander: Der kommunale Politikbetrieb, der immer mehr selbst in den Strudel der globalen Krise gerät, und die Lösung dieser Krise, die von der Occupy-Bewegung weltweit gefeiert wird: die radikale Idee der Kommune und der Selbstbestimmung.

Zwischen Revolution und Sparzwang

Claas Michaelis ist so etwas wie ein Stadtchronist. Hinter dem Marktplatz am Rathaus leitet der 34-Jährige die Redaktion der Witzenhäuser Allgemeine. Sein Haarschnitt ist adrett, sein Büro steril, der graue Pullover faltenfrei. Michaelis ist einer, der für die Leser hier täglich neu einordnen muss, was ganz normaler Wahnsinn einer hessischen Kleinstadt ist. Und wo der Wahnsinn aufhört. Und er ist einer, der einschätzen soll, ob man Hans Spinn und seine Leute aus dem Revolutionsgeschäft für voll nehmen muss - und doch eher die machtlos agierenden Kommunalpolitiker mit ihrem alternativlosen Sparzwang für bekloppt erklärt.

Eigentlich steht der Schreibtisch von Claas Michaelis genau zwischen diesen beiden Polen der Kapitalismuskrise in Witzenhausen.

55 Millionen Euro, das ist - bei einem Jahreshaushalt von 25 Millionen - der Schuldenberg, den die Stadt vor sich herschiebt. Allein zwei Millionen Euro zahlte die Stadt im Jahr 2011 an Zinsen nur für Schulden, mit denen der Haushalt belastet ist. Und jetzt haben sich die gewählten Vertreter und die Kämmerer der kleinen Kommune auch noch ordentlich verhoben. Zwei Millionen Euro muss die Stadt voraussichtlich abschreiben, weil sie in Krisenzeiten in riskante Finanzgeschäfte investierte. Eigentlich sollte mit den sogenannten Swap-Papieren die Zinslast gesenkt werden. Doch das Gegenteil war der Fall. Jetzt schimpfen die Kommunalpolitiker hier über die Banken. Und die Banken schimpfen zurück. Witzenhausen ist da keine Ausnahme.

Deshalb läuft in den Amtsstuben der hessischen Ministerialverwaltung derzeit die Planung für eine Art Entmündigungsverfahren: Während Merkel, Sarkozy, Barroso an sogenannten Schutzschirmen für Europa basteln, arbeitet die hessische Regierung an einem "Kommunalen Schutzschirm Hessen".

Ein erster Entwurf liegt auf dem Schreibtisch von Claas Michaelis. "Wenn die Kommunen jetzt nicht gehorchen, dann können sie künftig faktisch entmachtet werden", sagt er. Der Deal: Das Land Hessen übernimmt einen Teil der Schulden - dafür müssen die Kommunen und ihre Bürger ihr letztes Hemd geben. "Dann könnte mit einem Schlag die Grundsteuer auf Grundstücke und Gelände mal eben verdoppelt werden. Das trifft sofort jeden Bürger. Und da reden die in Berlin allen Ernstes noch von Steuersenkungen."

Die Krisenbilanz ist schon jetzt beachtlich: Während die Grundsteuer in Witzenhausen von 2001 bis 2010 um 3,3 Prozent stieg, stieg sie allein in den letzten zwei Jahren um satte 22,6 Prozent.

Die Krise in Klein

Angela Fischer, CDU-Bürgermeisterin im Ort, sagt: "Geht es nach diesem Entwurf, dann könnten sich diese Abgaben bei uns noch mal verdoppeln." Seit fast 20 Jahren, klagt sie, sei die Stadt mit strenger Haushaltskonsolidierung beschäftigt. "Aber nun ist diese Verschuldung kaum noch zu bewältigen. Wenn nichts mehr da ist, worüber sie entscheiden können, dann frustriert das auch die Lokalpolitiker."

Das ist ein Teil der politischen Krise von Witzenhausen. Dazu kommt: Die Region wird ärmer, weil die Menschen fortziehen. Und weil die Beschäftigtenquote bei der Kaliförderung flussaufwärts wichtiger als der Umweltschutz ist, schimpfen in Witzenhausen alle über die Wasserqualität der Werra.

Witzenhausen, das ist Kapitalismuskrise in Klein: Es gibt hier ein Stück ökonomischer Krise, ein Stück ökologischer Krise und ein Stück sozialer Krise. Und deswegen gibt es im Ort das Fachgeschäft für Weltrevolution.

Bunt und wild hat Hans Spinn hier Zeug gesammelt: Poster mit Parolen, Postkarten mit revolutionären Grüßen, Kinderbilder, eine Weltkugel, ein Handbuch für Seidenmalerei und jede Menge Fahrradkrempel, damit die Leute ihr Rad günstig reparieren können. Ein kleines Traumgeschäft. Geld fließt hier nicht, aber Ideen gibt es reichlich.

Hans Spinn, 55, personifiziert so etwas wie die kleinste Occupy-Bewegung der Welt. Als beim internationalen Widerstandstag am 15. Oktober in vielen Städten weltweit Demonstrationen stattfanden, schmunzelten einige in Deutschland auch über "Occupy Witzenhausen".

Kirschblütenwährung

Doch während in den globalen Metropolen und den kommunalen Parlamenten die Politik an den Prinzipien des Kapitalismus verzweifelt, arbeiten die Witzenhäuser aus dem Revolutionsgeschäft seit Jahren schon an ihrer eigenen Vision. Als der mediale Hype um "Occupy" im Herbst seinen Höhepunkt hatte, kämpften sie in Witzenhausen schon lang für den Erhalt ihres Gemeinschaftsgartens. Heute ist das Gelände verkauft, an einen Investor.

Silvia aus dem Gemeinschaftsgarten, Peter und Manfred, die für ein Sozialticket kämpfen, Heidi, die gegen die Windanlagen ist, Roland von der Erwerbsloseninitiative und einige andere: An diesem Nachmittag sind sie alle in Spinns Fachgeschäft. Das Arbeitsamt nennt manche von ihnen "erwerbslos". Aber sie nennen sich "Vollzeitaktivisten".

"Es geht um eine neue Stadt, eine neue Kommune", sagt Manfred. Einen Tauschring haben sie eingerichtet, eine kollektivierte Gemüseversorgung organisiert - mit Jahresabo für Möhren. Das mit dem 2004 eingeführten Regionalgeld funktioniert zwar nicht wirklich, aber immerhin hat die Alternative einen Namen: "Kirschblüten".

Silvia, 28, hat heute zum ersten Mal das Wochenbett verlassen, ihr Freund Gualter trägt die kleine Ronja in einem lilafarbenen Tragetuch. "Wir können doch nicht auf die Metropolen warten", sagt Silvia. "Es braucht auch revolutionäre Visionen für das Land." Und Roland, 60, erinnert sich an die Tage, als er in Witzenhausen seine Protestkarriere begann: "'Bleibet auf dem Land und wehret Euch täglich!' - das war schon in den 70er Jahren richtig. Und das bewegt uns bis heute."

Der Außenseiterkandidat

An der Eingangstür von Spinns kleinem Büro hängt ein "Wahlprogramm zum Selbermachen". "Gründet ein Begattungsinstitut!" steht dort beispielsweise. Und: "Für ein Kleinkindbecken im Freibad!" Eine Forderung lautet: "Mehr Bänke!" In Klammern hat jemand dahintergeschrieben: "Bessere Banken!"

Über vieles davon lächelt Claas Michaelis. Er weiß, dass nach der Geburt der Utopie nur selten Platz für Großes war. Er weiß auch, dass die Weltrevolution nicht in Witzenhausen beginnen wird. Manche Revolutionen aber beginnen im Kleinen.

Im Januar sind in Witzenhausen Bürgermeisterwahlen. Dann tritt Hans Spinn zur Wahl an. Als Parteiloser. Die nötigen Unterschriften dafür hat er zusammen. Und weil er als ein drolliger Kauz und liebenswerter Verrückter gilt, der einige Schicksalsschläge hinter sich hat und deswegen unter Betreuung steht, haben manche im Örtchen sogar Angst vor ihm.

Im Februar entscheidet das Frankfurter Landgericht darüber, ob die Krise der Stadt eine ökonomische oder eine politische ist: Ließen sich die Finanzbeamten der Stadtverwaltung übers Ohr hauen - oder hätten sie wissen müssen, was sie mit ihren Geschäften riskieren? Im Jahr 2012 wird auch der hessische "Schutzschirm" auf den Weg gebracht. Und im Januar sind Bürgermeisterwahlen in Witzenhausen. Hans Spinn aus dem Revolutionsgeschäft wird dann keine Chance haben gegen die Kandidaten von CDU und SPD.

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