Die Kanzlerin und ihr Präsident

MACHT Angela Merkel stützt den wackelnden Christian Wulff – wenn auch widerwillig. Die Bundeskanzlerin weiß genau: Sein Scheitern wäre auch eine Niederlage für sie selbst

■ Bundesversammlung: Bei einer möglichen Neuwahl des Bundespräsidenten tritt die Bundesversammlung zusammen. Sie besteht aus allen Bundestagsabgeordneten und der gleichen Anzahl von Delegierten, die von den Landtagen bestimmt werden. Insgesamt hätte sie 1.240 Mitglieder.

■ Mehrheitsverhältnisse: Aktuell käme Schwarz-Gelb nach Berechnungen von Wahlrecht.de auf 622 bis 624 Stimmen– eine sehr knappe absolute Mehrheit. Bei der vergangenen Bundesversammlung hatte die Koalition noch ein dickeres Stimmpolster und trotzdem wurde Wulff erst im dritten Wahlgang gewählt – dann genügt die einfache Mehrheit.

AUS BERLIN ULRICH SCHULTE

Der Tag, an dem Christian Wulff einen Befreiungsschlag versucht, beginnt mit einem großen Auftritt von Georg Streiter. Streiter ist Vize-Regierungssprecher, er macht den Job jetzt seit einem halben Jahr. Es ist halb elf am Vormittag, Streiter schaut etwas blass durch seine große Hornbrille auf seine Notizzettel. Er weiß, es wird hart für ihn: Seit Anfang der Woche redet die Republik über Christian Wulffs Drohanrufe bei Journalisten, Rücktrittsspekulationen jagen durch Koalition und Opposition, führende Politiker von Schwarz-Gelb ducken sich weg. Und jetzt muss er, Streiter, der Öffentlichkeit erklären, was die Bundeskanzlerin darüber denkt.

Umständlich schraubt sich Streiter durch seine Sätze. Was sich nach einer halben Stunde in der Bundespressekonferenz mitnehmen lässt, ist: Merkel ist nicht mehr amüsiert. Sie hat Streiter einen Vortrag über die Pressefreiheit mitgegeben. Wer ein herausgehobenes politisches Amt innehabe, müsse mit Nachforschungen der Presse rechnen. Eine Lehrstunde von Verfassungsorgan zu Verfassungsorgan. Deutlicher kann die Kanzlerin kaum signalisieren, was sie von Wulffs Drohanrufen in der Führungsetage des Springer Verlags hält.

Außerdem fordert sie via Sprecher eine weitere Erklärung Wulffs. Sie gehe davon aus, dass Wulff alle anstehenden Fragen umfassend beantworten werde. Wenn nicht, ist der Subtext, kann sie ihn schnell fallen lassen. Parallel laufen erste Tickermeldungen, dass der Präsident am Abend ein Interview bei ARD und ZDF geben werde. Jetzt ist klar: Er versucht sein Amt zu behalten, wie es einst Johannes Rau tat (Text unten).

Rücktritt? „Nein“, sagte Wulff. Er habe in den vergangenen Wochen viel Unterstützung von BürgerInnen erfahren und nehme seine Verantwortung gern wahr. Die Drohanrufe bei der Bild bezeichnete er als „schweren Fehler, der mir leidtut“. Er sei mit seinem eigenen Amtsverständnis nicht vereinbar. Wulff verwies weiter auf seine Familie, die durch die anstehenden Veröffentlichungen belastet werden würde. Ob dieses Interview ihn rettet, ist ungewiss – um den Präsidenten ist es einsam geworden.

Merkel hat in den vergangenen Wochen mehrfach signalisiert, wie wichtig ihr ist, dass Wulff bleibt. Seit Beginn der Affäre stützt sie ihn, lobte mehrmals seine Arbeit, was an sich schon den politischen Gepflogenheiten widerspricht. Eine Kanzlerin stellt dem Präsidenten keine Arbeitszeugnisse aus, beteuern ihre Sprecher. Doch tut sie im Prinzip nichts anderes. Wie weit sie in diesem Bemühen geht, zeigte sie etwa kurz vor Weihnachten, am 19. Dezember, bei einer Reise im Kosovo. Sie stand neben Hashim Thaci, dem Premier, und wedelte entschuldigend in seine Richtung. „Ausnahmsweise“ müsse sie kurz zur Innenpolitik übergehen. Thaci lächelte verlegen. Eigentlich hasst Merkel solche Protokollverletzungen. Aber sie weiß genau: Ein Scheitern Wulffs wäre auch eine Niederlage für sie selbst.

Im Juni 2010 konnte sie ihn gegen Joachim Gauck, den Coup der Opposition, nur mit Mühe ins Amt bringen. Wulff schaffte es in der Bundesversammlung erst im dritten Wahlgang. Mehrere Motive bei Kanzlerin und Koalition entschieden über seine Präsidentschaft. Die Spitzen von Schwarz-Gelb wollten unbedingt einen eigenen Kandidaten durchbringen. Merkel sah die Chance, einen parteiinternen Konkurrenten, der immer wieder aus Hannover stichelte, wegzuloben. Außerdem, so ein weiteres Kalkül, sollte es nach dem überraschenden Rückzug des verletzten Horst Köhler ein Politikprofi sein, der die Logik von Parteien und die der politischen Arena versteht.

Wulff sei einem Wertesystem verhaftet, das Orientierung gibt, sagte Merkel vor seinem Amtsantritt

Dafür ging sie in Vorleistung. Bei dem offiziellen Pressestatement der drei ParteichefInnen der Koalition sagte Merkel Anfang Juni voraus, dass Wulff einen „wunderbaren Präsidenten“ abgeben werde. Merkel lobte weiter. Wulff sei kreativ, neugierig auf Menschen und einem Wertesystem verhaftet, das Orientierung gebe. Heute klingt das wie eine Persiflage.

Es liegt eine Ironie darin, dass sich Merkels Überlegungen jetzt gegen sie wenden: Aus dem bequemen Erledigen eines Widersachers droht eine Schwächung für sie selbst zu werden. Dem Politikprofi Wulff könnten gerade seine Fehler aus der Ministerpräsidentenzeit zum Verhängnis werden. Und seine Nehmerqualitäten sind inzwischen selbst Unionspolitikern peinlich.

Ebenso interessant ist, dass Merkel durch ihre Entscheidung für Wulff eine Gedankenwelt und einen Habitus ins höchste Amt befördert hat, die ihr fremd ist. Merkel hat ihre Karriere in der CDU darauf gegründet, als Erste die Konsequenz aus der Schwarzgeldaffäre zu ziehen und mit dem Übervater Helmut Kohl zu brechen. Sie erholt sich im Ferienhaus in Templin, schätzt Erbsensuppe und nimmt Repräsentationspflichten eher als nötige Pflicht wahr. Es ist anzunehmen, dass ihr Wulffs Gratisurlaube in Luxusvillen, seine Gier und (früheren) Privatauftritte in Bild zuwider sind. Sie hat sich entschieden, diesen Präsidenten zu behalten – vorerst.