Agendapolitik für alle

VORSCHRIFTEN Die EU-Kommission arbeitet an einem neuen „Instrument für Wettbewerbspolitik“ in der Krise. Als Vorbild dient die deutsche Agenda 2010. Dagegen regt sich Widerstand in der EU und bei Frankreichs Staatschef François Hollande

BRÜSSEL taz | Die Grenzen der Sparpolitik sind erreicht, verkündete EU-Kommissionschef José Manuel Barroso vor drei Wochen. Gestern kam die offizielle Bestätigung von der EU-Statistikbehörde Eurostat: Nach Griechenland, Spanien und Italien ist nun auch Frankreich in die Rezession gerutscht. Selbst Deutschland schrammte in den ersten drei Monaten dieses Jahres mit mageren 0,1 Prozent Wachstum nur haarscharf am Abschwung vorbei.

Der Sparkurs ist gescheitert – mittlerweile zieht er sogar den Kern der Eurozone nach unten. Doch der von Barroso versprochene Kurswechsel ist ausgeblieben. Währungskommissar Olli Rehn will zwar die Austeritätspolitik ein wenig lockern: Genau wie Spanien soll auch Frankreich zwei Jahre mehr Zeit zur Erfüllung der Sparvorgaben erhalten. Im Gegenzug sollen die Arbeitnehmer den Gürtel enger schnallen.

Mehr noch: Die umstrittene Politik der Troika, die in den Krisenländern Südeuropas für massiven Sozialabbau und einen rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit gesorgt hat, soll auf die gesamte Eurozone ausgeweitet werden. Dies sehen neue brisante Pläne vor, an denen Brüssel hinter verschlossenen Türen mit Hochdruck arbeitet. Eigentlich sollten sie auf dem EU-Gipfel im Juni verhandelt werden, doch sind sie nun verschoben worden. Die Bundestagswahl in Deutschland wirft ihre Schatten bis nach Europa.

Den Startschuss für das „Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit“ – so der offizielle Titel – hatte wie so oft Kanzlerin Angela Merkel gegeben. Beim EU-Gipfel im Dezember 2012 hatte Merkel kurzerhand die offizielle Agenda gekippt und einen neuen „Wettbewerbspakt“ aus dem Hut gezaubert. Alle Euroländer – nicht nur die Krisenstaaten – sollten Strukturreformen einleiten.

Ähnliche Pläne gibt es zwar längst. Erst vor zwei Jahren hatte Merkel den sogenannten Euro-Plus-Pakt aus der Taufe gehoben. Doch anders als damals, als die Umsetzung unverbindlich blieb, sollen sich Länder wie Frankreich oder Belgien nun vertraglich verpflichten, ihre „Hausaufgaben“ zu machen. Nur wer sich an die Reformvorgaben hält, soll Finanzhilfen erhalten.

Pate steht die deutsche Agenda 2010. Genau wie in Deutschland will die EU-Kommission für das „bessere Funktionieren der Arbeitsmärkte“ sorgen, teilte sie im März mit. Was das in der Praxis bedeutet, geht aus internen Positionspapieren hervor. Brüssel möchte in die Tarifautonomie eingreifen und die Tarifbindung ebenso lockern wie den Kündigungsschutz. „Mehr Flexibilität“ bedeute mehr Arbeitsplätze, so die neoliberale Logik.

Schon jetzt versucht Währungskommissar Olli Rehn seine Vorstellungen durchzusetzen. Der Finne – ein Merkel-Fan – nutzt dazu den Euro-Stabilitätspakt und die Stabilitätsprogramme, die die Euroländer jährlich in Brüssel vorlegen müssen, und regiert massiv in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten hinein.

So wurde Belgien nicht nur empfohlen, das Budgetdefizit unter die erlaubte Schwelle von 3 Prozent zu drücken. Die Belgier sollen auch auf ihr bewährtes System der Lohnindexierung verzichten, das Lohnerhöhungen an die Inflationsrate bindet. In der Praxis würde dies geringere Lohnsteigerungen und Kaufkraftverlust bedeuten.

Noch sträuben sich die Gewerkschaften gegen die Zumutungen aus Brüssel. Die EU-Pläne würden „die Rolle der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen untergraben und gleichzeitig zur Senkung der Löhne führen“, warnt der Dachverband IndustriALL, dem auch die IG Metall angehört. Noch sieht es allerdings nicht so aus, als könne Merkel ihr neues Lieblingsprojekt schnell umsetzen. Während die EU-Kommission bereits auf den neuen Kurs eingeschwenkt ist, macht der Ministerrat in Brüssel Probleme. Derzeit gebe es im Rat keine Mehrheit für einen neuen Wettbewerbspakt, sagte ein EU-Diplomat.

Vor allem Frankreich stellt sich quer. Präsident François Hollande will den umstrittenen Regeln nämlich nur zustimmen, wenn Merkel im Gegenzug neue Hilfen für reformwillige Staaten bewilligt. Doch dazu ist die Kanzlerin nicht bereit. Vor der Bundestagswahl möchte sie sich keine Blöße geben. Die Agendapolitik für Europa ist jedoch nur aufgeschoben – aber nicht aufgehoben. ERIC BONSE