„Es gibt noch immer große Wissenslücken“

FORSCHUNG Die Suche nach den Ursachen von Demenz muss vorangetrieben werden, fordert Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr

■ 37, ist noch bis kommende Woche Bundesminister für Gesundheit. Das hier ist das einzige Interview, das der FDP-Politiker der taz seit Beginn seiner Amtszeit im Mai 2011 gab.

taz: Herr Bahr, die Demenzforscher stochern seit Jahren im Nebel. Was läuft schief bei der Grundlagenforschung?

Daniel Bahr: Man kann keine Erfolge erzwingen. In Deutschland wird mit Hochdruck nach den Ursachen geforscht, und es sind durchaus Fortschritte erkennbar. Deutsche Forscher haben wichtige molekulare Mechanismen entdeckt. Aber es gibt immer noch große Wissenslücken. Das Gehirn ist sehr komplex gebaut. Das Gesamtbild, das die Ergebnisse der Grundlagenforschung zusammenbindet und die Entstehung und Ursachen einer Demenz erklärt, fehlt weiterhin. Wenn wir das haben, können wir Früherkennung, Prävention oder Medikamentenentwicklung darauf aufbauen.

Bei der ärztlichen Erstdiagnose hapert es auch, beklagen Angehörige von Alzheimerpatienten. Dabei birgt die Früherkennung die Chance, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen.

Einspruch! Heute werden in Deutschland Demenzdiagnosen deutlich früher gestellt als beispielsweise noch vor 20 Jahren. Die Ärztinnen und Ärzte sind heute viel sensibler, das Wissen um die Symptomatik der Demenz ist weit verbreitet. Die neuropsychologische und apparative Diagnostik hat sich deutlich verbessert. Mir ist wichtig, dass wir die Angehörigen nach einer Demenzdiagnose nicht alleinlassen und ihnen helfen. Hier leistet die Selbsthilfe wertvolle Arbeit. Mit dem Pflege-Neurausrichtungs-Gesetz haben wir erstmals geregelt, dass die Selbsthilfearbeit 8 Millionen Euro jährlich erhält, um Demenzerkrankte und ihre Angehörigen besser zu unterstützen.

In der Politik bemisst sich die Relevanz, die einem Problem zuerkannt wird, auch immer darin, wie viel in seine Lösung investiert wird. Bei der Krebsbekämpfung gibt es weitreichende Programme zur Bekämpfung und Erforschung. Warum gibt es Vergleichbares für Demenz immer noch nicht?

Demenz ist in Deutschland im internationalen Vergleich schon lange ein Thema. Die Bundesregierung investiert jährlich insgesamt rund 90 Millionen Euro in die Demenzforschung. Schon seit 2002 fördert das Bundesbildungsministerium das Kompetenznetz Degenerative Demenzen. Es hat eine der weltweit größten Datenbanken zu Demenzerkrankungen aufgebaut. Deutschland hat das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen als erstes Zentrum der Gesundheitsforschung gegründet. Hier wird an der umfassenden Aufklärung der Ursachen von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz geforscht. Das ist europaweit einzigartig.

Wenn die Demografen nicht irren, wird jeder zweite heute geborene Mensch 100 Jahre alt. Nur haben wir keine Rollenmodelle dafür, was wir mit einem so langen Leben anfangen wollen, geschweige denn mit unseren dementen Jahren. Haben Sie eine Idee?

Es ist eine gute Nachricht, dass die Menschen immer älter werden. Zumal sich das Bild vom Alter deutlich gewandelt hat. Alt werden ist nicht mehr nur mit Gebrechlichkeit und Krankheit verknüpft. Es geht auch um Selbstbestimmung und Teilhabe, und das bis ins hohe Alter. Auch dann kann man noch aktiv sein und eine hohe Lebensqualität genießen, engagiert am Leben teilnehmen und sich in die Gemeinschaft einbringen. Wir werden in Zukunft das Engagement und die Erfahrung der sogenannten aktiven Älteren auch im sozialen Bereich immer mehr brauchen – sei es in der Nachbarschaftshilfe, bei der Pflege von Angehörigen, bei der Betreuung von Kindern oder beim Ehrenamt. INTERVIEW: HEIKE HAARHOFF