Hineinfinden ins Bekannte

DDR-FOTOGRAF Das Werk des Fotografen Roger Melis (1940–2009) zeigt eine Retrospektive in der Galerie c/o Berlin. Mit strengem Blick schuf er atmosphärisch dichte Fotos, Porträts und Klassiker der sozialen Reportage

Politik erscheint bei Melis nur im genauen Hinschauen

VON ANGELA HOHMANN

„Flaneure sind Künstler“, sinnierte Cees Noteboom einmal, „zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung.“ Übertragen auf den Fotografen Roger Melis, liefert diese Äußerung die exakte Beschreibung dessen, was Melis als Chronist und Flaneur der ehemaligen DDR mit dem Medium der Fotografie geleistet hat: ein „Memorieren im Schlendern“ wie Walter Benjamin es definierte. „Auf meinen Fotografien“, so Roger Melis, „ist zu sehen, was dem Flaneur begegnet – dem Spaziergänger, der ja Zeit ausgerechnet dadurch zurückerobert, dass er sie verschwendet.“

Unter dem treffenden Titel „Roger Melis. Chronist und Flaneur“ zeigt c/o Berlin mit über 200 Schwarz-Weiß-Fotografien eine erste Retrospektive in Berlin, der Heimatstadt von Roger Melis, dem im letzten Jahr verstorbenen Meister des ostdeutschen Fotorealismus. Zu sehen sind Reportagefotografien aus der Arbeits- und Lebenswelt der ehemaligen DDR, seine berühmten Künstlerporträts, Studien über ein Dorf in der Uckermark sowie zum Teil unbekannte Reise- und Städteporträts von Polen, Moskau, Paris und London. In den Reportagen über die Arbeiterwelt entfaltet Melis mit Industriearbeitern, Schornsteinfegern, Holzfällern und Waldarbeiterinnen das Bild eines Landes, das vor- und frühindustriell wirkt, in dem alles stillsteht – archaische Bühne eines Systems, das sich in der offiziellen Propaganda als Idealbild einer erfolgreichen sozialistischen Industriegesellschaft zu verkaufen suchte. Doch Politik erscheint bei Melis stets nur übers Hintertürchen, im genauen Hinschauen: Kinder, die übergroße Parteifunktionärsplakate vor sich her tragen; ein überdimensionierter Plakat-Lenin, der nach einer Menschenmenge zu greifen scheint, die ihm resigniert den Rücken kehrt; Militärfahrzeuge bei einer Staatsparade, die von einem kleinen Jungen inspiziert werden; dann bei Protestkundgebungen 1989 endlich gelöste Gesichter – die Geschichte eines ganzen Landes, erzählt in atmosphärisch dichten Bildern.

Als „Müllkastenfotografie“ wurden diese Arbeiten offiziell bezeichnet und blieben unveröffentlicht. Erst durch Ausstellungen nach der Wende und die ersten Bände der vierteiligen Werkausgabe im Lehmstedt Verlag wurden sie in vollem Umfang zugänglich. Geboren 1940 in Berlin, wächst Roger Melis im Haushalt seines Stiefvaters Peter Huchel zunächst im Berliner Westen und dann bei Potsdam auf. Er macht eine Lehre als Fotograf, anschließend fährt er als Schiffsjunge ein halbes Jahr zur See. Als er zurückkehrt, wird die Mauer gebaut. Von 1962–1968 findet Melis Zuflucht als wissenschaftlicher Fotograf in der Berliner Charité. Ab 1962 entstehen erste Porträts von Dichtern und Künstlern, ab 1966 erste Reportagen und ab 1969 erste Modefotografien für die DDR-Modezeitschrift Sibylle. Als freiberuflicher Fotograf und bildender Künstler macht er Porträt-, Reportage- und Modefotografien für Zeitungen und Verlage in Ost und West. Wegen eines gemeinschaftlichen Beitrags mit dem von der Stasi aus der DDR vertriebenen Schriftsteller Erich Loest für Geo erhält Roger Melis von 1981–1989 Auftragssperre. Er konzentriert sich auf Buch- und Ausstellungsprojekte und auf seine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule Weißensee (1978–1990). 1993–2006 wirkt er als Lehrer für Fotografie im Lette-Verein Berlin.

Eindrucksvolle Porträts

Im Westen war Melis schon lange durch jene eindrucksvollen Porträts bekannt, die das Bild vieler Schriftsteller, Künstler und Dissidenten der ehemaligen DDR geprägt haben: Anna Seghers, Helene Weigel, Heiner Müller, Christa Wolf, Katharina Thalbach, darunter so sprechende Bilder wie das des oppositionellen Liedermachers Wolf Biermann als „Preußischer Ikarus“ auf der Weidendammbrücke oder der Schriftstellerin Sarah Kirsch auf gepackten Kisten, beide kurz vor ihrer Ausreise aus der DDR. Aber auch Unbekannte, wie der als Indianer verkleidete Junge, zeigen sich Melis in unvergesslicher Aufrichtigkeit: Mit ernstem, leicht skeptischem Blick schaut er auf den Betrachter und macht in seiner Verkleidung nicht sich zum Fremden, sondern uns.

Der gleichermaßen strenge wie künstlerische Blick, der sich in Melis’ Fotografien offenbart, verbindet ihn mit den Größen der sozialen Reportage- und Straßenfotografie: August Sander, Robert Frank, Paul Strand sowie Eugène Atget und Cartier-Bresson. „Vielleicht besteht das eigentliche Abenteuer des Lebens nicht darin, das Unbekannte aufzuspüren“, sagt Melis, „sondern sich ins Bekannte hineinzufinden. Ich finde die Wahrheit des Unsensationellen spannend.“ Das Abenteuer beim Betrachten der Fotografien von Roger Melis besteht jedenfalls genau darin: im Beiläufigen, in der kleinen subtilen Geste, etwas Wesentliches zu finden.

■ „Roger Melis. Chronist und Flaneur“. Retrospektive. c/o Berlin. Bis 2. Mai