Das reichste Dorf Deutschlands

Büsingen ist eine der wenigen deutschen Gemeinden, die Geld haben. Kein Wunder, Büsingen liegt in der Schweiz. Doch damit fangen die Probleme erst richtig an

VON MARKUS WIEGAND

Es sind weniger als tausend Meter Ackerland, die Büsingen einzigartig machen. Niemand im Dorf weiß das besser als der Ehrenbürger Alwin Güntert, der seit seiner Geburt vor 74 Jahren in Büsingen wohnt. Wenn er Geschichten aus seiner Heimat erzählt, lächelt Güntert gelegentlich in sich hinein, als würde er wiederentdecken, dass Büsingen „wirklich ein Unikum“ ist.

Die unsichtbare Grenze etwa. Fährt Güntert von der nahen schweizerischen Kantonshauptstadt Schaffhausen am Rhein entlang nach Hause, fällt ihm gar nicht mehr auf, dass er sie überquert. Ganz ohne die sonst üblichen Kontrollen an der deutsch-schweizerischen EU-Außengrenze, sieht er plötzlich das leuchtend gelbe Ortsschild, ein deutsches „Büsingen“, Deutschlands einzige Exklave. Dahinter wohnen 1.500 Büsinger. Wer sie besuchen will, muss durch Schweizer Hoheitsgebiet, denn Büsingen ist eine deutsche Insel. Ein kleines deutsches Paradies, eine Kommune, die im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Gemeinden keine finanziellen Sorgen hat.

An der schmalsten Stelle sind es nur 800 Meter, die Büsingen vom deutschen Staatsgebiet trennen. Vorbei an Fachwerkhäusern, Bauernhöfen, einem Bügelservice und dem Restaurant „La Gondola“, mitten auf dem Rathausplatz in Büsingen ist es sogar nur ein Meter: zwei Telefonzellen vor der Postfiliale, eine gehört der deutschen Telekom, eine der schweizerischen Swisscom. Darüber, auf dem gelben Logo der deutschen Postfiliale: zwei Postleitzahlen, eine deutsche und eine für die Schweiz. Auf dem Rathausplatz parken Autos mit deutschem Kennzeichen: „BÜS“ wie Büsingen. Damit ist Büsingen das einzige Dorf in Deutschland, das ein eigenes Nummernschild hat. Ein weiteres deutsches Identitätsmerkmal, das jedoch nur dazu dient, die Zugehörigkeit zur Schweiz anzuzeigen. „Dadurch wissen die Zöllner, dass sie uns behandeln müssen wie Schweizer“, erklärt Güntert. Dabei dehnt er die Worte lang, so wie es im Schweizerdeutschen üblich ist. Güntert sitzt im Büro des Bürgermeisters. Er kommt noch gerne hierher, ins Rathaus, an seinen ehemaligen Arbeitsplatz. Früher war er stellvertretender Bürgermeister und verhandelte mit der Schweiz und Deutschland über den Sonderstatus Büsingens.

Weil man in der sonst so akribischen Schweiz wenig Lust hatte, das Dorf mit Grenzposten einzukreisen, schlossen Deutschland und die Schweiz vor 37 Jahren eigens wegen des kleinen Büsingens einen Staatsvertrag. Seitdem gehört der Ort zum Schweizer Wirtschaftsraum, ist aber weiter deutsches Hoheitsgebiet. Geht Güntert in den Dorfladen, bekommt er nur die aus deutscher Sicht teuren Schweizer Produkte und muss mit Schweizer Franken bezahlen. Gleichzeitig tragen die Büsinger die hohe deutsche Einkommensteuer. Eine von vielen Regeln, die Güntert nicht versteht. Eine Bürokratie, die größer ist als in all den anderen deutschen Kommunen. Richtig aufregen kann Güntert sich darüber nicht mehr. Man gewöhne sich daran, sagt er. Weggehen käme für ihn nicht in Frage, schließlich ist Büsingen seine Heimat, wo er das ganze Leben mit seinen kräftigen Händen als Bauer gearbeitet hat. Güntert ist ein praktischer Mensch. Aber in Büsingen ist vieles unpraktisch.

Vor rund eineinhalb Jahren schloss die Europäische Union mit der Schweiz ein Abkommen. Seitdem müssen die Büsinger, die in der Schweiz arbeiten, einen hohen EU-Aufschlag an ihre Krankenkasse zahlen. Gleichzeitig erleichterte das Abkommen deutschen Bürgern, in die Schweiz umzuziehen. Daher verlor Büsingen rund 200 seiner 1.500 Bewohner, die nun weniger Steuern und geringere Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Aus der Schweiz aber zogen ebenso viele Rentner zu, weil ihre Renten im deutschen Büsingen nicht besteuert werden. „Es gibt seitdem einen Spruch: Büsingen wird zum Altersheim“, sagt Güntert und lächelt, als gäbe es Schlimmeres.

Die Fremdbestimmung ist man in Büsingen gewohnt. Im Kalten Krieg Anfang der 80er-Jahre kauften Immobilienspekulanten reihenweise Wohnungen in Büsingen und verkauften sie an Deutsche. „Dann haben Sie im Falle eines Krieges schon einen Fuß in der neutralen Schweiz“, so lautete die Werbung. Güntert erinnert sich noch gut an sie. Plötzlich interessierten sich auch deutsche Medien für das Dorf. Eine Zeitung kam, Güntert erzählte und die Zeitung titelte: „Büsingen – der Bunker der Nation.“ Güntert weiß nicht mehr, welche Zeitung das war, er liest keine deutschen Zeitungen.

Heute haben andere im Rathaus das Sagen. Der aktuelle Bürgermeister Gunnar Lang ist einer der wenigen, der der Sonderlage nur Positives abgewinnen kann. „Die Situation der Exklave sorgt schon für einen besonderen Zusammenhalt der Büsinger“, sagt der 53-Jährige staatstragend. Bei den vergangenen Wahlen bestätigten ihn 90 Prozent seiner Dorfbewohner. Parteien gibt es in Büsingen nicht, darauf ist man ein bisschen stolz. Es regiert der Konsens. Paradiesisch.

Ebenso wie die Haushaltslage der Gemeinde. „Wir bekommen einen Teil der in der Schweiz gezahlten Mehrwertsteuer zurück“, erklärt Lang, der früher Steuerberater war. Rund 1,5 Millionen Euro strich seine kleine Gemeinde im vergangenen Jahr als Sondereinnahme ein.

Ziel des Bürgermeisters ist es, die Einzigartigkeit seiner Gemeinde zu vermarkten. Mit einem Exklavenmuseum etwa, sagt er. Da könnten Touristen dann sehen, was Büsingen und die russische Exklave Kaliningrad gemeinsam haben. Und ein befreundeter Bauer und Kamelliebhaber habe angeboten, Touristen auf seinen Kamelen die EU-Außengrenze Büsingens zu zeigen.

Ehrenbürger Güntert hält von all dem nur wenig. Er will die Sonderlage nicht vermarkten, sondern abschaffen. Bis heute ist jedoch nichts passiert und die Büsinger sind weiter auf der Suche nach ihrer Identität. Güntert zahlt mit Schweizer Franken, er bekam als Bauer die üppigen schweizerischen Direktzahlungen und organisierte als Chef des Turnvereins ein eidgenössisches Turnfest des Kantons in Büsingen. „Im Grunde fühle ich mich als Schweizer“, sagt er. „Wie die meisten hier. Nur zugeben werden das die wenigsten.“

Fragt man die Büsinger draußen auf dem Rathausplatz, ob sie sich als Deutsche oder als Schweizer fühlen, so antworten die meisten mit einem Lächeln „als Büsinger“. Ein anderer bringt das Dilemma so auf den Punkt: „Wenn du nach Deutschland gehst, bist du ein Kuhschweizer, und wenn du in die Schweiz kommst, bist du ein Sauschwab.“

Es gab viele Versuche, die Büsinger zu richtigen Deutschen oder zu Schweizern zu machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stimmten 96 Prozent der Einwohner Büsingens für einen Beitritt zur Schweiz, doch die Eidgenossen fürchteten die Kosten für die ungeliebten Deutschen.

In den 50er und 60er Jahren hatte man in Deutschland die Idee, am Rhein entlang eine Straße zu bauen, um die 1.000 Meter schweizerisches Territorium zu überbrücken. Dieser zollfreie Korridor sollte die Exklave wie eine nationale Nabelschnur an das Kernland binden. „Damals hat unsere schweizerische Nachbargemeinde aus Dörflingen gesagt, dass sie so einem Projekt niemals zustimmen werden“, erinnert sich Güntert. Die Dörflinger hatten Angst, durch eine streng gesicherte Straße von ihren Badeplätzen am Rhein abgeschnitten zu werden.

In Büsingen trägt man das den Dörflingern nicht nach. Denn im Sommer badet man selbst gerne im Rheinwasser, das sich ruhig dahinfließend den Weg in Richtung Deutschland bahnt.