Gefühlsduselige Sportnation: Das Leiden der Anderen

Seit der unheilbar erkrankte Eishockeyspieler Robert Müller ins Tor zurückgekehrt ist, interessieren sich alle für ihn. Was fasziniert die Menschen an dem öffentlichen Sterben?

Eishockeyspieler Robert Müller: "Ich will einfach nur leben". Bild: dpa

Was machen die da? Ist das nicht unfair? Der kann den doch nicht einfach gegen die Bande drücken! Wie die schon aussehen mit ihren Zahnlücken! Den Puck sieht man auch nicht, und die Abseitsregeln sind auch kaum zu verstehen. Eishockey ist eine der großen Mannschaftssportarten hierzulande. Mannschaften wie die Kölner Haie, die Mannheimer Adler und die Eisbären Berlin spielen regelmäßig vor mehr als 10.000 Zuschauern. Und doch ist die Eishockeygemeinde überschaubar. Es gibt Fans, ein paar Interessierte und ganz viele, denen jeder Zugang zu dem Sport fehlt. In der Szene der TV-Rechte-Vermarkter heißen derartige Disziplinen Zielgruppensportarten. Denen gelingt es nur selten, das ganz große Publikum zu erreichen.

Derzeit redet beinahe das ganze Land über Eishockey. An der Sportart selbst, ihrer Schnelligkeit ihren hohen technischen Anforderungen liegt das nicht. Es ist der faszinierende Lebenskampf eines krebskranken Eishockeytorwarts, der die Nation fasziniert. Unter Robert Müllers Stirn sitzt ein Tumor, ein Glioblastom. Schon zwei Mal ist der Goalie, der bei den Kölner Haien unter Vertrag steht, deshalb operiert worden. Teile des extrem schnell wachsenden Tumors wurden entfernt. Müller weiß, dass die Erkrankung unheilbar ist. Er wird sterben, Frau und zwei Kinder hinterlassen. Zwei Mal schon stand er kurz vor dem Tod. Zwei Mal ließ er sich operieren, quälte sich durch die Therapie. Zwei Mal hatte er vor allem ein Ziel: die Rückkehr ins Eishockeytor. Er hat es geschafft, ist zum Helden geworden.

Am Sonntag bei der Partie der Haie gegen Nürnberg (5:1) wurde der 28-Jährige für acht Minuten aufs Eis geschickt. Über 13.000 Zuschauer in der Kölnarena erhoben sich von ihren Plätzen und feierten Müller. Auch in anderen Hallen wurde sein Name skandiert. "Ich will einfach nur leben", hat Müller gesagt, als er nach den Gründen für seinen nicht nachlassenden sportlichen Ehrgeiz gefragt wird. Er lebt. Und wie! Alle konnten es sehen.

Mit einem Mal weiß die Nation, dass ein Puck schon mal mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h auf dem Torwart zufliegt, dass die Kölner Haie hinter den Eisbären Vizemeister wurden, dass der Oberbayer Müller einer der besten deutschen Torhüter war und auch in der Nationalmannschaft brillieren konnte. Aus einem überdurchschnittlich begabten Eishockeyspieler ist eine Art Übermensch geworden, weil er sein extremes Schicksal in der Öffentlichkeit lebt. Fasziniert wendet sich die Öffentlichkeit einer Sportart zu, die mit ihren Faustkampfriten und meisterlichen Sauforgien nicht unbedingt für die gefälligsten Veranstaltungen sorgt. Als vor ein paar Jahren einige Spieler der Berliner Eisbären nach einem Trainingslager in Schweden wegen des Verdachts, eine Frau vergewaltigt zu haben, verhaftet wurden, waren nicht wenige bereit zu glauben, dass stimme, was ihnen vorgeworfen wurde. Mit Robert Müller ist die Schmuddelwelt der Pucksportler zum großen Gefühlstheater geworden. Die Nation leidet mit.

So wie sie mit dem Gewichtheber Matthias Steiner mitleidet, dem starken Mann, der sich in Peking so schön über seine Goldmedaille gefreut hat, der so sehr weinen musste, als er mit dem Bild seiner tödlich verunglückten Frau in der Hand auf dem Siegerpodest stand. Derzeit läuft der Prozess gegen den Verursacher des Unfalls, bei dem Steiners Frau ums Leben kam. Die Nation erlebt mit Steiner gemeinsam den Schicksalschlag noch einmal. Sie leidet mit. Ende des Jahres werden die Sportler des Jahres gekürt. Es wäre keine große Überraschung, würde Steiner ausgezeichnet. Ein Gewichtheber! Ein Vertreter einer Sportart, die als durch und durch dopingverseucht gilt!

Die deutsche Sportnation, sie ist gefühlsduselig. Helden werden nicht auf dem Sportplatz geboren, sondern daneben. Den Sportarten, die gerade davon profitieren, wirds recht sein.

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