Die Rolle von Suizid in der Gesellschaft: Selbstmord als letzte Waffe

Für Milliardär Adolf Merckle war der Suizid das einzige Mittel, seiner Ohnmacht zu entkommen. Insgesamt töten sich in Deutschland fast 10.000 Menschen pro Jahr.

An Rücksichtnahme auf den Zugfahrer denkt kaum ein Selbstmörder mehr, wenn es denn so weit ist. Bild: dpa

Das zentrale Wort ist Ohnmacht. In einer kurzen Erklärung hat sich die Familie zu den Motiven geäußert, warum sich Milliardär Adolf Merckle von einem Zug überrollen ließ. Die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, habe den leidenschaftlichen Familienunternehmer gebrochen.

Ein Leben lang hatte Merckle in seinen Unternehmen als Patriarch geherrscht - nun war er auf Notkredite angewiesen. Es wurde eine wochenlange Betteltour bei Banken und beim Land Baden-Württemberg. Als er Selbstmord beging, wusste Merckle, dass die Notkredite zustande kommen würden, die dann zwei Tage nach seinem Tod offiziell verkündet wurden: Kurz vor seinem Suizid hatte er noch alle nötigen Unterschriften geleistet. Aber die Erniedrigung blieb und auch das Wissen, dass nun die Banken das eigentliche Regiment übernehmen würden.

Zur neuen Ohnmacht gehörte aber auch, dass Merckle sein öffentliches Bild nicht mehr kontrollieren konnte. Bisher war er als Selfmademan bewundert worden, und er litt an der Häme, die ihm entgegenschlug, sobald bekannt wurde, dass er bei VW-Spekulationen bis zu 1 Milliarde Euro verloren haben könnte. "Es macht mich traurig", sagte er erkennbar getroffen, "dass in solchen Zeiten wie der jetzigen Finanzkrise die öffentliche Meinung über Handlungen und Personen schlagartig umschwingen kann."

In dieser Ohnmacht wollte Merckle offenbar noch einmal Macht beweisen - über das eigene Leben und den eigenen Tod.

Selbstmord ist eine radikale Selbstermächtigung, denn es wird keinerlei Rücksicht mehr genommen. Nicht auf die Angehörigen und nicht auf den Zugfahrer, der damit zurechtkommen muss, zum Tötungsinstrument degradiert worden zu sein. Selbstmord ist immer auch Provokation: Familie und Gesellschaft wird die Fähigkeit abgesprochen, zu helfen und zu verstehen.

Wenn man den Suizid als Machtinstrument liest, als letzte Waffe, dann lässt sich vielleicht daraus erklären, warum sich deutlich mehr Männer umbringen als Frauen. Selbstermächtigung passt besser in ihr Rollenbild. Die komplementäre Deutung wäre, dass es Frauen vielleicht leichter fällt, Hilfsangebote zu erkennen und anzunehmen.

In den nackten Zahlen des Statistischen Bundesamtes bietet sich jedenfalls folgendes Bild: 2006 fielen 9.765 Todesfälle in die Kategorie "vorsätzliche Selbstbeschädigung", wie der Suizid amtlich heißt. Betroffen waren 7.225 Männer und 2.540 Frauen. Insgesamt führt der Selbstmord fast doppelt so häufig zum Tod wie ein Verkehrsunfall: Dort wurden 5.339 Fälle gezählt.

Allerdings ist jede Statistik zwangsläufig ungenau, kommen doch auf einen Suizid noch ungefähr zehn gescheiterte Selbstmordversuche. Jeder dürfte sich schon einmal ausgemalt haben, wie es wäre, sich umzubringen, manche nur spielerisch, andere ernsthaft.

Lange war Selbstmord ein Tabu, doch nun beginnt es sich auszuzahlen, dass die Gesellschaft einen pragmatisch-medizinischen Umgang damit sucht. Die Zahl der erfolgreichen Suizide geht zurück - 1980 brachten sich noch fast doppelt so viele Menschen in Deutschland um. Manche Präventionsstrategien waren simpel: Haushaltsgas ist inzwischen giftfrei, und in Überdosis tödliche Medikamente werden nur noch in Minipackungen verschrieben. Außerdem wurde die psychologische Betreuung deutlich besser: Krisentelefone stehen rund um die Uhr bereit, und Depressionen werden als Krankheit ernster genommen.

Für Medien nie leicht einzugestehen: Auch sie mussten ihre Rolle überdenken. Wurde früher noch jeder Selbstmord gemeldet, gilt nun eine Art Selbstverpflichtung, weitgehendes Stillschweigen zu bewahren, um keine Nachahmertaten zu provozieren. Insofern ist dieser Text also ein gewisser Selbstwiderspruch - und nur zu rechtfertigen, weil der Tod eines Konzernlenkers mit 100.000 Beschäftigten sowieso ein Politikum ist.

Letztlich aber bleibt der Selbstmord eine individuelle Tragödie. Auch bei Merckle wird das deutlich, schon durch den Vergleich. Denn anderen Unternehmern war ihr Scheitern nicht besonders peinlich. Jedenfalls nicht öffentlich. So blieb der Medienmogul Leo Kirch betont lakonisch, als sein Imperium zusammenbrach: "Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen." Allerdings war Kirch schon immer ein begabter Selbstdarsteller.

Wie man aus einem Totalbankrott sogar noch eine Erfolgsgeschichte machen kann, führte der Immobilienunternehmer Jürgen Schneider vor. Nach aufwändigen Sanierungen vor allem in Leipzig legte er 1994 eine Milliardenpleite hin und wurde wegen Betrugs zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Aber Schneider verstand es, sich als moderner Robin Hood zu inszenieren - und die Banken als Deppen dastehen zu lassen. Das Publikum war angetan.

Doch der Einzelne kann nicht beliebig wählen, welcher Ausweg ihm möglich ist. Merckle fühlte sich ohnmächtig. Gefangen. Da bleibt nur Mitgefühl.

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