Bandscheibenvorfall und Co.: Das Kreuz mit dem Rücken

Was tun, wenn der eigene Körper zur Last wird? Ein Betroffener erzählt von seinem Leiden. Und dem Aufbau eines Muskelkorsetts.

Kann nicht jeder - schon gar nicht ein Mensch mit Rückenproblemen. Bild: Nanduu

"Korsettspannung", sage ich mir, wenn ich mit dem Fahrrad über Straßenbahngleise holpere, "Korsettspannung", wenn ich in ein weiches Sofa sinke oder den Einkaufskorb greife. Erst bete ich das Mantra des Rückenkranken. Dann kneife ich den Pomuskel zusammen, Bauch und Rücken, auch einen Strang, der im Schritt sitzt, den Damm - das Muskelkorsett ist gespannt, so wie mirs beigebracht wurde. Eine Bandscheibe spielt nicht mehr mit. Seit zwei Jahren. Sie ist geräuschlos gerissen. Eine Masse, von der es heißt, sie sei geleeartig, hat sich ergossen in einen dunklen Spalt des Körpers. Das Gelee drückt auf einen Nerv. "Bandscheibenvorfall L5S1", lautet die Diagnose. Das Problem sitzt zwischen Lendenwirbel fünf und Steißbein. Es ist das wohl schmerzhafteste und hartnäckigste Allerweltsleiden, das man haben kann.

Deutschland ächzt unter Rückenschmerzen. Jeder zehnte Fehltag bei Arbeitnehmern liegt direkt an einem Hexenschuss, fand der Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK) heraus. Warum in Süddeutschland deutlich weniger Menschen Rückenschmerzen haben als im Norden, kann niemand erklären.

Forscher aus den USA nennen in der Zeitschrift Archives of Internal Medicine neben Übergewicht auch das gehäufte Auftreten von Depressionen als Ursache. Untersuchungsleiter Timothey Carey: "Die gegenwärtigen Behandlungen scheinen nicht sehr wirksam zu sein."

Und tatsächlich: Alle Welt hat es. "Bandscheibenvorfälle" scheinen so häufig zu sein wie Triefnasen im Winter. Ich kenne einen Kollegen vom Fernsehen, der sich morgens nur mit Mühe aus dem Bett schält, weil ihn das Kreuz furchtbar peinigt. Ich weiß von einer Pressesprecherin, die sich an der Bandscheibe operieren lassen musste, weil die Symptome so ausgeprägt waren, dass sie hinkte. Ich kenne einen Justizsprecher, der täglich mit Gewichten arbeitet, damit der Rücken nicht muckert. Ich habe Kontakt zu einem Onlineredakteur, der ein Jahr im Job ausgefallen ist, weil in der Lendenwirbelsäule etwas "vorgefallen" ist. Medienmenschen scheinen prädestiniert zu sein für diese Gelee-Sache. Aber nicht nur die: Jede fünfte Frau und jeder siebte Mann leiden in Deutschland an chronischen Rückenschmerzen. Sagt das Robert-Koch-Institut.

Es ist das immergleiche Szenario. Saftloses Sitzen im Büro lässt die Muskeln schrumpfen. Das lasche Gewebe kann das Rückgrat nicht mehr stützen. Eine Fehlhaltung entsteht. Und ehe man sichs versieht, ist der Keim für den Bandscheibenvorfall gelegt. Nun braucht es nur noch eine dumme Bewegung, ein unachtsames Hantieren mit einer schweren Last, und zack, ist der Vorfall da: die Berufskrankheit des modernen Büromenschen, die Seuche des Sitzenden. Der Vorfall gedeiht idealerweise in einem Biotop des Stresses.

Sigmund Freud hätte womöglich vom Druck gesprochen, der sich ins Somatische, also Körperliche verschiebt. Drückte es zunächst eher metaphysisch aufs Gemüt, so drückt nun das Gelee sehr konkret auf den Ischias, den längsten und mächtigsten Nerv des Menschen. Er reicht von der Lende bis zum Fuß - und überall kann es wehtun. Am Oberschenkel, in der Wade, unterm Fuß, an den Zehen. Wobei: Dort unten kribbelt es meist nur, so als würde man seinen Fuß in ein Strombad halten. Früher war man überzeugt, dass so etwas nur von bösen Mächten kommen konnte und sagte "Alpschoss" oder "Hexenstich" zum "Lendenübel".

Der Bandscheibenvorfall ist in etwa das, was zu Freuds Zeiten die "Neurasthenie" gewesen ist. Heute ist es das Rückgrat, das der Belastung im hyperkomplexen Alltag nachgibt, damals wurde der Mensch, überfordert im Gewirr des industriellen Zeitalters, müde und antriebslos. Freuds Neurastheniker waren ausgebrannt, weil sie sich an der lodernden Welt um sie herum entzündet hatten. Sie entschleunigten sich, indem sie depressiv wurden und ihren Körper versagen ließen, unbewusst natürlich. Als Produktivkräfte standen sie nicht mehr zur Verfügung. Sie waren raus aus dem kapitalistischen Spiel. Körper und Geist wollten nicht mehr.

Heute ist das Heer der Ausgebrannten keineswegs kleiner geworden, allerdings mischt nun auch das Bataillon der Bandscheibengeschädigten mit. Es handelt sich nicht mehr nur um Maurer oder Möbelpacker, die schlapp machen, es sind Büromenschen mit zarten Händen und Wohlstandsbauch, die es im Kreuz haben. Sie hatten keinen Unfall mit einem überschweren Zementsack, sie haben sich meist ganz einfach nur kaputtgesessen. Rückenleiden sind heute auch keine Frage des Alters mehr. Die Patienten werden jünger. Und zahlreicher. Der malade Rücken ist zum Kostenfaktor geworden: In der Altersgruppe der 15- bis 65-Jährigen stehen Rückenleiden und Arthrosen auf Platz drei, hinter Verdauungsproblemen und Zahngeschichten.

Ärzte profitieren vom Podiumsplatz des Rückens. Wehwehchen rund um die Wirbelsäule sind zu einer sprudelnden Einnahmequelle für Mediziner geworden. Es ist nicht wichtig, dass Experten der Meinung sind, akute Beschwerden würden in neunzig Prozent der Fälle binnen weniger Wochen von alleine verschwinden. Therapiert wird auf Teufel komm raus. Auch meine Orthopädin verdient an mir. Obwohl es in der heißen Phase eines Bandscheibenvorfalls wenig Sinn ergibt, es mit Akupunktur zu versuchen, verordnet sie mir die Nadelkur. "Na ja, wir können es ja mal versuchen", sagt sie und kassiert die Selbstbeteiligung. X-mal. Sonst fällt ihr nicht viel Schlaues ein - außer Diclofenac auf Rezept, ein Schmerzmittel. Als ich irgendwann um eine OP bitte, sagt sie nur: "Dafür geht es ihnen noch zu gut." Ich frage mich, warum der Fußballer Bernd Schneider sofort unters Messer kommen, ich aber nicht. Das hat man nun als Kassenpatient davon.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Rückenschmerzen und einem Vorfall. Beides zu vergleichen hieße, einen Schnupfen für eine Virusgrippe zu halten. Bei etwa neunzig Prozent der Patienten findet man keine organische Ursache für oftmals sehr diffuse Beschwerden. Diese Gruppe spricht hervorragend auf Placebos an, mischt nach einem warmen Bad oder einer Akupressur schon wieder munter mit. Beim kleineren Rest haben die Beschwerden ernste Ursachen wie Infektionen, Tumoren oder eben geschädigte Nervenwurzeln nach einem Vorfall. Die "echten" Fälle müssen mit einer längeren Leidenszeit rechnen. Kathartische Heilungen gibt es hier nur selten.

In Sandwich-Position

Der Vorfall katapultiert einen erst mal heraus aus der Arbeitswelt. Man hat sich verschlissen. Betroffen sind, so bestätigen es medizinische Studien, oftmals nervöse und ehrgeizige Zeitgenossen, Manager in Sandwich-Position, die sich im Mahlwerk zwischen Chefetage und Belegschaft aufreiben, Perfektionisten und Überkorrekte. Aber was macht sie letztlich krank? Ist die Klientel übermäßig darauf bedacht, im Alltag Rückgrat zu zeigen? Wollen sie es allen recht machen? Und wie geht es künftig weiter mit einer Sollbruchstelle im Kreuz?

Knackst es im Gebälk des Rückgrats, dann ist in den nächsten Wochen erst einmal Schluss mit der Normerfüllung am Computer. Dafür beanspruchen die Symptome volle Aufmerksamkeit: das Kribbeln und Kneifen, das dumpfe Ziehen im Bein und die Gefahr von großkalibrigen Hexenschüssen, die jederzeit alles wieder schlimmer machen können. Und dann auch noch das: Verloren in der Fließbandmedizin stellt sich keine Besserung ein. Das Gelee drückt und drückt. Will nicht nachlassen.

Ein paar Wochen nach der Diagnose komme ich in die Reha, in die "Siechenanstalt", wie ich sie nenne, um mich zu distanzieren von der anfangs völlig unannehmbaren Szenerie. Ein rotbärtiger Arzt erklärt mir, dass die Bandscheiben von Bewegung leben, sie benötigten einen gleichmäßigen und ausgewogenen Wechsel zwischen Be- und Entlastung, um sich ausreichend mit Flüssigkeit und Nährstoffen zu versorgen. Außerdem würde durch Bewegung das Gelee langsam abtransportiert werden aus dem Spalt.

Die Reha ist eine einzige Demütigung, aber sie hat auch etwas Gutes. Hier lerne ich, dass mich die "Korsettspannung" retten wird. Eine Krankengymnastin macht mich mich dem Wort bekannt. Was es damit auf sich hat, ist schnell erklärt: Die Muskeln am Rumpf müssen wachsen, damit gehalten und gestützt werden kann, was das Rückgrat nicht mehr zu halten vermag. Von nun an wächst mein Muskelkorsett. Ich mache täglich Übungen, auf dem Rücken liegend, auf der Seite und in Bauchlage, ich dehne bis zum Anschlag und beobachte schon nach wenigen Wochen, dass ich meinen Bauch wellenartig bewegen kann, das sieht sehr lustig aus. Zusätzlich drückt ein Neurochirurg in monströsen Spitzen, die wie ein Bratspieß in meinem Rücken stecken, Kortison in mich hinein, damit der Schmerz weggeätzt wird.

Die Therapie schlägt an. Ich habe mich nach Monaten so weit instand gesetzt, dass ich nun reif bin für die finale Krisenintervention: Kieser-Training. Im Tempel des freudlosen Trainierens soll der Feinschliff erfolgen. In dem Laden in Berlin-Mitte treffen sich die typischen "Vorfälle": PR-Agenten, die sich das Training von der Privatkrankenkasse bezahlen lassen und allerlei Mittelalte, die sich am Job verhoben haben. Im Kreis der Rückenarbeiter stemme ich brav die Gewichte. Mir bleibt ja nichts anderes übrig, wenn ich "L5S1" wieder auf Vordermann bringen will. Artig folge ich den Instruktionen der Trainer. Bemüht tue ich meine Pflicht an Maschine F3 und D5. Die Gewichte klackern, jemand stöhnt vor Anstrengung. Und ich murmele still mein Mantra: "Korsettspannung, Korsettspannung".

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