„Botschaften in die Welt“

ORANGENPAPIERE Vom edlen Wilden bis zum eigenen Kind: Die seidigen Hüllen der Apfelsinen erzählen kleine Geschichten. Ein Gespräch mit Dirik von Oettingen

■ betreibt das weltweit einzige Orangenpapiermuseum im Internet. Er selbst besitzt weit über 40.000 Papiere. www.opiummuseum.de ■ hat zuletzt ein Buch über die Orangenpapiere veröffentlicht: „Verhüllt, um zu verführen. Die Welt auf der Orange“ (500 Abbildungen), Vacat Verlag, 28 Euro

INTERVIEW ANNE HAEMING

taz: Herr von Oettingen, welches Orangenpapier liegt gerade auf Ihrem Schreibtisch?

Dirik von Oettingen: Ich schreibe gerade einen Aufsatz für ein Sammlerjahrbuch über ein sehr ungewöhnliches Motiv: Es zeigt den berühmten Marconi-Versuch, die erste transatlantische Funkübertragung im Jahr 1901. Eine Weltsensation, die Anfänge der Telegrafie!

Und wie landete der Marconi-Versuch auf einem Einwickelpapier?

Der Orangenbauer Letterio D’Orazio hat wohl gedacht, dass er sich diesen Erfolg zunutze machen könne. Er hat es nicht erlebt: 1908 kam Letterio bei dem großen Erdbeben von Messina ums Leben.

Woher kennen Sie solche Details?

Das weiß ich von dem Sammler aus der Schweiz, dem ich diese Papiere abgekauft habe, der hat es recherchiert. Dass Orangenbauern die Papiere nutzten, um ihre Botschaft in die Welt zu senden, war übrigens nicht außergewöhnlich – mancher wickelte seine Früchte etwa mit dem Bild seines Babys ein und demonstrierte so seinen Stolz auf den eigenen Sprössling.

Das klingt, als hätten die Bauern die Motive selbst gestaltet.

Das liegt im Dunkeln. Die Bilder sind allesamt nicht handsigniert, die Künstler kennt man nicht. Bei den Motiven ist zwischen naiver Volkskunst und professionellen Grafiken alles dabei. Die heutigen Papiere sind kaum noch sammelwürdig. Dass sich einer hinsetzt und zu Feder und Pinsel greift, das gibt es gar nicht mehr. Meist ist es Clipart aus dem Computer.

Wieso das?

Der Kostendruck ist einfach enorm. Die Orangenbauern haben sich zu großen Kooperativen zusammengeschlossen; die haben, wenn überhaupt, ein einziges Motiv – und das ist hässlich. Mittlerweile entstehen jedes Jahr nur noch ein paar Dutzend neue Motive, das sind weniger als zehn Prozent im Vergleich zu früher. Es ist ein rückläufiges Sammelgebiet.

Und weshalb sind die Papiere nicht mehr so wichtig?

Die Orange ist eben keine wertvolle Dessertfrucht mehr. Heute werden die Früchte lose in die Auslage gepladdert, kaum in Papier eingewickelt. Die Orangen werden zum Schutz einfach mit einer zusätzlichen Wachsschicht versehen – und es gibt für die Früchte nun einmal keinen besseren als die Schale selbst.

Die Papierhülle diente also eigentlich zur Sicherheit?

Der Weg von den Plantagen in Italien und Spanien war lang und der Transport Ende des 19. Jahrhunderts rau, die Orangen mussten vor Puffen und Stößen geschützt werden. Da sie damals nicht gewaschen wurden, blieben auch alle Keime an der Schale – es bildete sich leicht Schimmel. Und das Papier verhinderte, dass die anderen Früchte in der Kiste auch verdarben, es galt schließlich, die Ausfälle klein zu halten.

Aber dafür hätte doch auch unbedrucktes Papier gereicht.

Stimmt. Orangenpapiere haben sich schon recht bald von dieser reinen Schutzfunktion emanzipiert. Schon in den 1880ern gab es erste kleine Schmuckelemente auf den Papieren: Heiligenbildchen, Zweige und dergleichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Orangenpapiere eine zweite Hochblüte. Die Früchte sollten in der Kiste nett aussehen, die Motive zum Zugreifen animieren.

Welche Bilder schafften das?

Oft stand dabei die Güte der Frucht im Vordergrund. Um die Qualität zu unterstreichen, wurden etwa Diamanten oder Wappen abgebildet. Die meisten Bilder zeigen tatsächlich die Früchte selbst, da ist etwa ein König mit einer Orange als Bauch. Häufig vertreten sind auch Frauen, sei es als Göttin, Beauty oder Ernterin. Man sieht: Das ist ganz genau überlegt und appelliert an Käufer und Händler gleichermaßen. Das gefällt mir viel besser als etwa Mickymaus.

Weshalb?

Comicfiguren sind einfach nicht authentisch. Diese Figurenfamilien kennt man schon, und sie sind sehr beliebt. Die Plantagen wandten sich damit direkt an die Sammler, und deswegen mag ich sie nicht.

Moment mal, was macht der Struwwelpeter auf italienischen Orangenpapieren?

Man kann sagen, dass rund zehn Prozent der existierenden Motive direkt auf die einzelnen Verbrauchermärkte zugeschnitten sind. Für Deutschland gab es eben deutsche Slogans oder typisch deutsche Figuren wie „Vater und Sohn“ von e.o. plauen, Charaktere aus Grimms Märchen oder eben den Struwwelpeter. Auf anderen ist dann meinetwegen der Arc de Triomphe oder die norwegische Flagge abgedruckt.

Besonders auffällig ist auch ein anderes Motiv: Wie kommt es, dass die Papiere häufig Schwarze zeigen?

„Da ist ein König mit Orange als Bauch. Häufig sind auch Frauen, als Göttin, Beauty oder Ernterin“

„Moro“ heißt auf Italienisch nicht nur „schwarz“, es ist auch der Name einer Blutorangensorte. Deswegen findet sich der sogenannte Mohr auch nur auf den Papieren sizilianischer Blutorangen – nie auf Blondapfelsinen. Es gibt über 1.500 Varianten, es ist das Königsmotiv für Sammler. Gleichzeitig sind die „Moro“-Bilder aber der einzige dunkle Punkt in unserer sonst so fröhlichen Sammelwelt: Schwarze werden karikiert, verzerrt und als Wilde dargestellt – vieles ist so rassistisch, dass ich es nie in einer Ausstellung zeigen würde.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Exemplar?

Welches das erste Papier war, weiß ich nicht mehr genau. Ich war mal ein sehr engagierter Briefmarkensammler, bin dessen aber irgendwann überdrüssig geworden. Als ich 1995 pensioniert wurde, machte ich einen Schnitt und ließ alles versteigern. Ich habe mir geschworen: Du sammelst nie wieder etwas!

Und dann?

Nun ja, mein Vater war Orangenpapiersammler, wie übrigens auch schon dessen Vater, die Sammlung ist im Zweiten Weltkrieg leider verloren gegangen. Ich habe regelmäßig Zuträger für meinen Vater gespielt, ihm Papiere mitgebracht – und irgendwann habe ich mir selbst immer eines zur Seite gelegt. Bums! –und ein Ordner war voll, zack! – mehrere. 1999 habe ich angefangen, meine eigene Sammlung zusammen mit der meines Vaters online zu stellen.

Was ist typisch für die frühen Exemplare?

Es ist grundsätzlich schwer, das Alter festzustellen. Das liegt unter anderem daran, dass ein und dasselbe Orangenpapier, einmal gedruckt, auch über Jahrzehnte verwendet werden kann. Der wichtigste Anhaltspunkt ist die Drucktechnik: Je nachdem, was möglich war, war der Druck relativ klein oder es gab etwa keine Hintergrundfarbe.

Wie populär sind die Apfelsinenhüllen eigentlich in anderen Ländern?

Oh, es gibt intensive Sammlergemeinden in Frankreich und Holland. In den Ostblockstaaten existieren übrigens gar keine, kein Wunder, sie waren ja lange abgeschnitten. In den USA kenne ich auch keinen, dafür ist dort eine andere Szene sehr ausgeprägt: Zitruskistenplakate – das sind die knalligen Poster, die vorne und hinten auf den Holzkisten aufgeklebt waren. Ich selbst bin übrigens Mitglied in der Citrus Label Society, der kalifornischen Gesellschaft für Zitruskistenplakate.