Kolumne Speckgürtel: Die unbarmherzige Riegenführerin

Die Pubertistin ist ein Bewegungsmuffel. Woher hat sie das bloß?

Morgens, halb sieben in Deutschland. Ein Kind, gefangen im Körper einer Jugendlichen, betritt die elterliche Küche. Die Kleidung entspricht allen Anforderungen der Gruppenkompatibilität, die Frisur sitzt, das Make-up ist gründlich besorgt. Das Kind öffnet den Mund und fordert unverblümt einen Entschuldigungszettel für die ersten beiden Schulstunden.

Wie das, liebes Kind, fragt die Mutter, sollte mir entgangen sein, dass die Schulpflicht abgeschafft ist? Mitnichten, liebe Mutter, entgegnet die Einssechzigblondine, aber die ersten beiden Stunden sind Sport.

Ist das vielleicht ein Grund, fragt die Mutter.

Es verhält sich so, dass die Pubertistin noch nie starken Bewegungsdrang hatte. Schon als Kind saß sie gern rum, das Kinn in die Babyspeckfaust gestützt und starrte ein gepflegtes Loch in die Luft. Als sie mit zehn Jahren die Segnungen unkontrollierten Fernsehens entdeckte, war es ganz aus. Wozu bewegen, wenn es bewegte Bilder gibt?

Endgültig auf den Geschmack an der Faulheit ist sie durch einen vierwöchigen Schüleraustausch in die USA gekommen. "Hier", so schrieb sie uns vor zwei Jahren vom PC ihrer Gastfamilie aus, "ist es geil. Wir gehen ganz oft zu Mäckes, abends chatten wir, und das Beste ist: Edens Eltern fahren uns jeden Tag zur Schule und zurück. Ein Fahrrad hat keiner. Ehrlich gesagt würde ich am liebsten hier bleiben. Ich hoffe, ihr seid nicht sauer deshalb."

Iwo, da sind Eltern doch nicht gekränkt! Das stecken die so weg, dass ihr Kind eine entfremdete Konsumwelt dem beschaulichen Speckgürtelleben mit ihnen vorzieht. Unser Wiedersehen verlief entsprechend kühl - auf beiden Seiten. Als sie am nächsten Morgen ordnungsgemäß wieder die vier Kilometer Richtung Kleinstadtschule aufbrechen musste, sahen wir, wie sie ihrem Fahrrad einen gezielten Tritt verpasste.

Woher hat sie das bloß, fragte der Vater, ich hab gekickt in dem Alter, bin schwimmen gegangen, hab Tischtennis gespielt. Ich nicht, sagte ich, ich hatte Sportbefreiung.

Ja, so war das. Noch heute kann ich mir jederzeit den Geruch unserer Schulturnhalle herbeihalluzinieren, die praktische Frisur von Sportlehrerin Kneschk, das Geräusch des Sprungbretts, wenn die kleine, begabte Angela Wilhelm elastisch über den Bock jachtet. In dieser Erinnerung spiele auch ich eine Rolle. Ich spüre, wie das Kletterseil sich in meine Oberschenkel brennt. Wie die Jungs lachen, wenn diese verdammte Kugelstoßkugel zwei Meter vor mir im Schulhofstaub landet. Wie beim Abschwung am Stufenbarren mein Unterleib gegen den Holm kracht. Ganz schlimm die Minuten, in denen die Völkerball-Mannschaften per Zuruf ausgewählt werden. Mit den anderen beiden Bewegungsidioten muss ich meinen spieluntauglichen Körper anbieten, bis sich eine Riegenführerin (oh Gott, so hieß das wirklich!) meiner erbarmt.

Mit vierzehn Jahren ging ich so lange zum Orthopäden, bis ich eine schöne unbefristete Sportbefreiung wegen irgendwas hatte.

Das alles weiß die Pubertistin natürlich nicht. Sie hält mich für ein bisschen blöd, weil ich freiwillig laufen gehe und Yoga mache. Du bist so 'ne ganz Sweete, sagt sie und kneift mir spöttisch in die Wange.

Ja, genau, ich bin so 'ne ganz Sweete. Und du gehst jetzt mal schön los zur Schule. Die ersten beiden Stunden hast du Sport.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.