„Wir wären so hilflos wie 1348“

SCHWEINEGRIPPE Schon eine bislang harmlose Grippeepidemie versetzt viele Bürger in Angst. Wie groß wäre da die Panik, wenn eine echte Seuchenkatastrophe vom Ausmaß der Pest drohte? Der Medizinhistoriker Klaus Bergdolt gibt Antworten

■ leitet seit 1995 das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Der 61-Jährige hat mehrere Bücher geschrieben, unter anderem zur „Geschichte des Schwarzen Todes“ in Europa und über ärztliche Moral.

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE

taz: Herr Bergdolt, niemand scheint zu wissen, wie schlimm H1N1 wirklich ist. Die Öffentlichkeit ist verwirrt. Wären wir im Ernstfall genauso panisch wie die Menschen zu Zeiten der Pest vor 660 Jahren?

Klaus Bergdolt: Würde sich die Schweinegrippe zu einer für viele Menschen tödlichen Epidemie entwickeln, dürfte sich, das steht leider zu befürchten, die Bevölkerung kaum anders verhalten als im 14. oder 15. Jahrhundert. Ungeachtet aller zivilisatorischen Brüche, die von Historikern immer wieder reklamiert werden, bleibt die bittere Erkenntnis: Seuchenzeiten sind Zeiten des Misstrauens, der Verdächtigung, der Vorurteile. Auch durch die Aufklärung hat sich hier wenig verändert. Im Gegenteil: Die Ausgrenzung wurde nur wissenschaftlich untermauert.

Warum?

Schon im 14. Jahrhundert versetzte das bloße Gerücht, in einer Nachbarstadt oder einem nah gelegenen Land grassiere die Pest, die Menschen in helle Aufregung. Wenn ich die öffentliche Thematisierung der Schweinegrippe in den vergangenen Wochen Revue passieren lasse, habe ich den Eindruck, dass ein Teil der Presseberichte ganz ähnliche Ängste weckt. Hier geht etwas nicht auf: Jedes Jahr sterben tausende Menschen hierzulande an normalen Grippeinfektionen, ohne dass groß darüber berichtet wird. Aber jeder einzelne Todesfall, der der Schweinegrippe zugerechnet wird, wird in Schlagzeilen herausgestellt.

Liegt das nicht auch an der Sorge, der Erreger der Schweinegrippe könne zu einer weitaus gefährlicheren Variante mutieren?

Natürlich. Es ist tatsächlich beunruhigend, dass zum Beispiel die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg, an der mehr Menschen starben, als Soldaten im gesamten Krieg gefallen waren, erst durch eine solche Mutierung gefährlich wurde. Im Moment gibt es für so etwas aber keine Anzeichen. Fast alle Fälle verlaufen harmlos. Die wenigen Todesfälle beschränken sich auf Risikogruppen.

Trennt uns also heute von einer Weltuntergangsstimmung wie zur Zeit des „Schwarzen Todes“ nur ein dünner Firnis aus Hygienebestimmungen?

Uns trennt vieles von den Menschen des Spätmittelalters, die fast ausnahmslos sehr religiös waren. Der Tod bedeutete etwas anderes als in der säkularen Gesellschaft. Viel interessanter ist aber, was uns mit dieser Zeit verbindet. Das 14. Jahrhundert war eine Zeit mentaler Veränderungen. Die Sicherheit der Weltordnung wurde brüchig, Zweifel kamen auf. Der Schwarze Tod wurde, denken wir nur an Petrarca, auch eine Art Metapher des Umbruchs. Gerade in Deutschland zeichnen sich ja auch heute radikale mentale Veränderungen ab. Wir sind auf dem Weg zu einer säkularen Gesellschaft, die eigene kulturelle Traditionen stark relativiert. Viele Menschen leiden an einer Identitätskrise. Wie man, nach fast einem Jahrhundert seuchenpolitischer Stabilität, einer kollektiven Seuchengefahr begegnet, darüber haben wir keine Erfahrungen. Ich fürchte, die Menschen würden sich im Fall einer Katastrophe nicht weniger hilflos fühlen als 1348.

Sind wir heute einem Inferno wie der Pest besonders nahe, weil ein Virus binnen weniger Tage um die Welt reisen kann? Oder sind wir dank Impfungen, Erfahrung und Hygiene besonders geschützt?

Niemand kann diese Fragen sicher beantworten. Wenn wir Glück haben, bleibt die Schweinegrippe eine harmlose Epidemie mit wenigen Opfern. Falls der Erreger jedoch mutiert, könnte eine ähnlich gefährliche Seuche wie nach dem Ersten Weltkrieg drohen. Absoluten Schutz bietet dann nur, wie 1348, die absolute Isolation. Das wird nur wenigen möglich sein.

Erklärt das auch die missverständlichen Signale der Gesundheitsbehörden? Mal wird beschwichtigt, mal gewarnt.

Die Regierung ist natürlich in einer schwierigen Situation. Die Gesundheitsbehörden müssen einerseits auf den Ernstfall gut vorbereitet sein, andererseits alles vermeiden, was Unruhe erzeugen könnte. Zu Pestzeiten war das nicht anders. In einer ersten Phase wiegeln Behörden – das ist ein Gesetz der Seuchengeschichte – eher ab.

Noch einmal: Kann eine Panik in der heutigen säkularen Gesellschaft leichter entstehen als in der festgefügten Welt des Mittelalters?

Religiöse Menschen sahen in Seuchen eine Prüfung oder Strafe Gottes. Viele kümmerten sich aus christlicher Barmherzigkeit um Erkrankte und Sterbende, wobei man sogar das eigene Leben aufs Spiel setzte. Andere wurden bereits 1348 zu puren Egoisten. Schon damals reagierte man also höchst unterschiedlich. Ich bezweifle, dass es heute eine nennenswerte Bereitschaft gibt, das Leben für Schwerkranke und Sterbende einzusetzen. Entgegen allen politisch korrekten Beteuerungen würde unsere Gesellschaft im Ernstfall vermutlich eine utilitaristische Abwägung treffen. Das Ergebnis wäre: Wer zu einer Minderheit gehört, welche die Mehrheit tödlich bedroht, muss isoliert werden.

„Falls der Erreger mutiert, bietet dann nur, wie 1348, die absolute Isolation Schutz. Die wird nur wenigen möglich sein“

Die Isolierung von Kranken gab es doch schon vor Jahrhunderten: in Lazaretten, Wohnhäusern oder durch Mauern. Das Habsburgerreich baute im 17. Jahrhundert sogar einen 1.900 Kilometer langen Gürtel von Wachen auf, um das Eindringen der Pest aus dem Osmanischen Reich abzuwehren.

Vor allem in großen Kommunen waren Pestlazarette alltägliche Einrichtungen. Dort wurden die Kranken vor allem von Pflegeorden betreut. Wer wollte diese Aufgabe heute übernehmen, falls – um den Worst Case herauszustellen – eine pestartige tödliche Seuche wie Schnupfen durch Tröpfcheninfektion übertragen würde? Aber noch einmal: Im Moment kann von einer solchen Seuche keine Rede sein.

Auch jüngere Seuchen brachte „Helden“ hervor: Alexander Fleming entwickelte das Antibiotikum Penicillin, Robert Koch entdeckte das Cholera-Bakterium, und der Immunologe Paul Ehrlich fand ein Mittel gegen die Syphilis. Fehlt heute, da anonyme Konzerne Wirkstoffe entwickeln, vielen Menschen ein benennbarer Held?

Bei der Schweinegrippe fällt der wissenschaftliche Held offensichtlich aus. Ein perfektes Mittel gegen diese Erkrankung wird es vermutlich erst geben, wenn die Gesellschaft sich schon mit der nächsten Seuche befasst.

Auch ein benennbares Böses, das schuld ist an der Seuche, gibt es heute nicht mehr.

Genau das macht die Sache vielen Menschen unheimlich. Die bildhafte Vorstellung des Bösen ist auf der Strecke geblieben.

Früher galten Seuchen als Strafe Gottes. Und heute?

Religiöse Erklärungen spielen, wie gesagt, kaum noch eine Rolle, moralisierende dagegen sehr. Die Verbreitung der Seuchen wird dann als Folge der neuen Mobilität, des Tourismus, des westlichen Luxus allgemein erklärt. Da kommt man schnell zu dem Schluss, dass die Natur nun etwas „korrigieren“ müsse. Solche Vorstellungen gab es schon im 19. Jahrhundert.

Wächst wieder die Lust an der Endzeitstimmung, ähnlich dem Schauder vorm Atomkrieg?

Von der Angst während der sogenannten Nachrüstungsdebatte – man denke an die Proteste gegen die Aufstellung von Atomraketen – sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Die Menschen erscheinen mir weitaus gelassener, und das ist gut so. Im Vergleich zur Zeit der Pest haben wir – statistisch gesehen – ja auch einen Vorteil, nämlich die Möglichkeit zur Impfung.

■  Epidemien haben die Menschheitsgeschichte geprägt. Am tiefsten ins kollektive Gedächtnis Europas gegraben hat sich die Große Pest von 1347 bis 1353. Damals starben schätzungsweise 25 Millionen Menschen an der Lungen- oder der Beulenpest – rund ein Drittel der damaligen Bevölkerung des Kontinents. Über Jahrhunderte blieb den verängstigten Menschen vor allem ein Rat, um ihr Leben bei Ausbruch einer Seuche zu schützen: „Fliehe bald, fliehe weit weg, komm spät zurück.“

■  Seit dem 18. Jahrhundert wächst das Wissen um die Ursachen der Seuchen. Die aufkommenden Impfungen konnten aber noch lange Zeit verheerende Pandemien nicht verhindern: die der Cholera im 19. Jahrhundert, der Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg oder Aids.

■  Laut Robert-Koch-Institut sterben in Deutschland jährlich 8.000 bis 15.000 Menschen an den Folgen der saisonalen Grippe. (mlo)

Ausgerechnet dort gibt es heftigen Streit zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern.

Das Problem ist, dass einerseits die Behörden zur Impfung aufrufen, die Experten aber unterschiedliche Meinungen über deren Sinn und Nutzen äußern. Auch dass zwei verschiedene Impfstoffe bestellt worden sind – der eine für Mitarbeiter von Regierungen und Behörden, der andere für Normalbürger –, war zwar eine rein praktische Maßnahme ohne Hintergedanken, psychologisch aber eine unglaubliche Ungeschicklichkeit.

Impfgegner gibt es, seit es Impfungen gibt. Haben sich deren Argumente grundsätzlich gewandelt?

Im Kern nicht. Impfgegner berufen sich auf bestimmte Statistiken und verweigern andere Statistiken, die sie widerlegen würden. Es gibt ein uraltes Misstrauen gegenüber staatlichen Maßnahmen und naturwissenschaftlicher Medizin. Das war bereits im 18. Jahrhundert so. Aber man darf auch nicht vergessen: Es gibt immer wieder Menschen, die aufgrund einer Impfung schwer erkranken oder sogar sterben.

Lassen Sie sich gegen die Schweinegrippe impfen?

Es mag merkwürdig klingen: Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich warte ab.