Das Recht auf Untertreibung

DAS MOMA IN BERLIN Jetzt sind es „Kompass – Zeichnungen aus dem MoMA New York“, die in Berlin im Martin-Gropius-Bau zu sehen sind

In der Welt des Spektakels bedeutet die Zeichnung so etwas wie das Recht auf Untertreibung. Der Amerikaner Paul Thek tuschte Braungeflecktes auf grauem Grund, es sieht aus wie heiße Kartoffeln und heißt auch so. Das Blatt entstand 1974, zu diesem Zeitpunkt war Thek dabei, mit gigantischen Installationen eine Synthese zwischen Pop und Konzeptkunst zu erarbeiten. In der Welt des Spektakels braucht die Zeichnung aber auch Selbstbehauptungswillen, um in der Konkurrenz der Medien überhaupt wahrgenommen zu werden. „Vavoom“, brüllt eine kleine Figur mit riesiger Klappe bei Raymond Pettibon von der Spitze eines Berges 1987 und ein Text weist das Männchen aus als „The Terrible Accuser of the Earth“.

Vielleicht ist es dieser besondere Witz, mit dem viele Künstler die Bedeutung ihres Tuns reflektierten, die dem Medium Zeichnung wieder erhöhte Aufmerksamkeit eingetragen hat. In der Ausstellung „Kompass – Zeichnungen aus dem MoMA New York“, die seit Freitag im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen ist, findet man jedenfalls viele Belege für diese These. Sie vermittelt aber auch eine Vorstellung vom intimen Rezeptionsmodus der Zeichnung: Je mehr Zeit man ihr widmet, desto mehr bekommt man zurück.

Wie im Salon eines Sammlers aus Leidenschaft hat Christian Rattemeyer, Kurator der Ausstellung und des Museum of Modern Art, einige Wände der Ausstellung in dichter Hängung konzipiert. Da treffen zum Beispiel Körperbilder aufeinander, erotische Überhöhungen und Hinterfragungen tradierter Darstellungsweisen: Joseph Beuys neben Tom of Finland, Robert Crump neben Rosemarie Trockel. Andere Salonwände gelten der Szene der Minimalisierer und Systemerbauer, wie die Amerikaner John Cage, Lawrence Weiner, Carl André und Donald Judd, die im gleichen Raum auch mit den deutschen Künstlern Hanne Darboven und Blinky Palermo zusammentreffen.

Das ist ein kunsthistorisches Ordnungsmuster, das die Künstler aus Europa und den USA dort zusammenbringt, wo sie sich aufeinander bezogen haben und inspirierten. Solche bekannten Erzählweisen werden dankenswerterweise durch die Einbeziehung von Künstlern unterbrochen, die es noch zu entdecken gilt, wie die Geschichtenerzähler Jockum Nordstrom aus Schweden oder die Amerikaner Jim Shaw und Jack Smith. Von Letzterem stammt eine Blattserie, „Evil of the Brassiere World“ (von 1969), in der grob gezeichnete Kakerlaken über schwarzweiße Ornamente und Schriften krabbeln.

Die Werke der Ausstellung gehören erst seit 2005 zum Bestand des MoMA: Ausgesucht und gekauft hat sie Harvey S. Shipley Miller im Auftrag der Judith Rothschild Foundation, gestiftet von der Malerin Judith Rothschild. Dass Miller während des Ankaufs viele Entdeckungen in Berlin gemacht hat, bezeugt seine Sammlung. Man findet schöne Serien von Mark Brandenburgs filmischen Underground-Szenarien, von Kai Althoffs Spiel mit romantischen Figuren, von Fernando Bryce’ Rückblick auf die Geschichte der Revolutionen. So ist die Ausstellung nicht zuletzt eine für Berlin sehr schmeichelhafte Anerkennung der eigenen Kunstszene: Via MoMA in den Martin-Gropius-Bau zu kommen, ist schon speziell.KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Bis 29. Mai im Martin-Gropius-Bau, Berlin