„Wie im Lehrbuch“

DUISBURG I Staatsanwalt Gratteri über das Urteil gegen Giovanni Strangio und die unverminderte Bedrohung durch die ’Ndrangheta

■  Am 15. August 2007 wurden in der Nähe des Duisburger Hauptbahnhofs vor dem Restaurant Da Bruno sechs Italiener im Alter zwischen 16 und 39 Jahren erschossen. Das Vorgehen erinnerte an eine Hinrichtung, die Tat gilt als eine der brutalsten der bundesdeutschen Kriminalgeschichte. Der italienischen Staatsanwaltschaft zufolge war das Massaker Teil einer langjährigen Fehde der ’Ndrangheta-Clans Pelle-Vottari und Nirta-Strangio aus dem kalabresischen Dorf San Luca, das als eine Mafiahochburg gilt. Wie in Kalabriens Metropole Reggio/Calabria üblich hatten die Familien Duisburg entlang eines Flusses in Einflusszonen aufgeteilt. Jüngste Ermittlungen ergaben, dass die ’Ndrangheta vertikal organisiert ist: Zellen in Australien zum Beispiel fragen in der Zentrale in Reggio um Rat, erhalten Befehle, Konflikte werden hier geschlichtet. Im reichen Norditalien und insbesondere im Bauwesen wurde die feste Verwurzelung der ’Ndrangheta nachgewiesen. Auch in Deutschland, vor allem in Baden-Württemberg, ist die Mafia aktiv, wie zuletzt bei einer Polizeiaktion im März dieses Jahres deutlich wurde.

INTERVIEWS AMBROS WAIBEL

taz: Herr Gratteri, mit ein paar Tagen Abstand: Wie beurteilen Sie den Ausgang des Prozesses im Fall Duisburg und Giovanni Strangio?

Nicola Gratteri: Sehr positiv. Wir von der Staatsanwaltschaft glauben ja auch, dass wir dem Gericht in Locri alle Informationen geliefert haben, die zu einer Verurteilung erforderlich waren. Und wir sind auch der Überzeugung, dass diese Urteile vor den nächst höheren Instanzen halten werden, also vor dem Berufungsgericht in Reggio/Calabria und vor dem Gerichtshof in Rom.

Der deutsche Anwalt Giovannis Strangios, Frank Berlanda, hat in einem Interview recht harte Aussagen gemacht: Die deutsche Behörden hätten Strangio wie eine faule Tomate nach Italien verschachert, weil es in Deutschland nicht mal zur Anklageerhebung gereicht hätte.

Ich kann Ihnen nur sagen: Zwischen der Polizei in Duisburg, dem BKA und der italienischen Polizei gibt eine hervorragende Zusammenarbeit, insbesondere mit mir, der ich seit einem Dutzend Jahren regelmäßig in Deutschland bin. Inzwischen schätzen wir die Arbeit des anderen sehr.

Inzwischen?

Die Beziehungen haben sich verbessert und werden sich weiter verbessern. Ich war in Duisburg, in Frankfurt, beim BKA. Die Kollegen sind zu uns nach Reggio gekommen. Wir haben unsere Erkenntnisse abgeglichen und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir hier in Italien bessere Möglichkeiten haben, zu einer Verurteilung Strangios zu kommen. Und dann hat die italienische Justiz sich in Bewegung gesetzt. Aber zu der Verurteilung ist es nicht zuletzt durch die Zeugenaussagen der deutschen Polizisten hier in Locri gekommen und natürlich durch die Vorermittlungen der Deutschen.

Wie ist denn jetzt nach dem Urteil die Stimmung in San Luca, dem Urort der Clanfehden [„faide“], die zu den Morden von Duisburg führte?

Bis das Urteil nicht durch alle Instanzen gegangen ist, wird in San Luca sich gar nichts grundlegend ändern. Und auch nicht in den anderen Hochburgen der ’Ndrangheta. Klar will man dort jetzt den Eindruck erwecken, es sei alles befriedet. Aber ich traue diesem Frieden nicht: Die „faide“ sind unberechenbar wie schlafende Vulkane, sie können jederzeit wieder ausbrechen.

Und Sie haben ja auch keine Ruhe. Gerade ist die Operation „Crimine 3“ zu Ende gegangen. Worum ging es da genau?

Es ging um den internationalen Drogenhandel, wir haben über eine Tonne Kokain beschlagnahmt. Das war eine Operation, die man in ein Polizeilehrbuch aufnehmen könnte, was die internationale Zusammenarbeit angeht, wie man trotz ganz unterschiedlicher Mentalitäten und Gesetze zum Erfolg kommt. Beteiligt waren Mexikaner, Amerikaner, Kanadier, Holländer, Spanier. Die ’Ndrangheta, die hier erscheint, bewegt sich souverän auf internationalem Parkett.

Ist denn der Drogenhandel überhaupt noch so wichtig für die Clans?

Es gibt nichts Besseres, legal oder illegal. Wir fangen nur ein Zehntel des Kokains ab. Und die Nachfrage in Europa ist unverändert stark.

■  Nicola Gratteri ist Oberstaatsanwalt (Procuratore aggiunto) in Reggio/Calabria. Seit 1989 lebt er unter Personenschutz