Eine kleine Truhe voll

ERINNERUNG Schmuckstück, Schlafmedaille, Shrek-Figur: Was sich in Schatzkisten so findet

Die Uhr aus Westberlin

Meine Schatzkiste ist etwas größer als eine Brotbox, ihr Holzdeckel ist voll geschwungener Schnitzereien, und auf ihrem rotsamtenen Grund liegen zwei Uhren. Eine glänzt golden, die andere silbrig. Die eine ist um viertel nach elf stehen geblieben, die andere um halb zwölf.

Sie liegen begraben unter einem Stapel gefalteter Erinnerungen. Einmal Prinzessinnenbad, Kino 2, 6,50 Euro. Ein halber Liter Wein, Hotel Oasis, Zimmer 230. Der Taxi-Shuttle Szczecin–Berlin. Rechnungen, Visitenkarten, estnische Kronen. Lose in die Vergangenheit. Wie weit darf ich zurück? Vier Jahre, fünf?

Ich sehe den Strand in Spanien, die ziegelrote Danziger Innenstadt, mein altes Herculesrad. Und diesen besoffenen Russen, der mir in Estland, in Tallinn, an einem Sonntagmorgen einen dieser Kronenscheine irgendwo hinsteckt, als er über das Kopfsteinpflaster torkelt.

Die goldene Uhr hat einmal meinem Großvater gehört. Ich frage mich, an welchem 2. sie wohl stehen geblieben ist. Er ist an einem 29. gestorben. Certina, quartz. Swiss Time Maker since 1888. Es ist eine sehr getragene Uhr. Ich hatte damals versucht, sie anzulegen. Aber sie war zu Westberlin, zu dick, zu gold. Zu Schein. Die andere Uhr hat mir mein Onkel Karl geschenkt, aus Amerika. AK, Anne Klein – aber vorbei die Zeit, in der alles unglaublich kostbar wirkte, nur weil der Onkel aus den USA es mitgebracht hatte.

Ich habe beide in die Kiste gelegt, unter einen Stapel Erinnerungen. Genuine Leather. Stainless Steel. JOHANNES GERNERT

Der angebissene Flummi

Ich bin sieben Jahre alt. Und in meiner Schatzkiste sind so ungefähr zweihundertzwanzig Sachen drin. Zum Beispiel eine ganz kleine Schatzkiste mit Plastikmünzen und Glassteinen. Und so ein Seil, da ist an beiden Enden ein Haken dran. Das Seil hab ich mal im Kofferraum vom Auto gefunden. Da versuch ich immer Sachen einzufangen, die Löcher haben. Und dann hab ich auch noch ein Gerät, da muss man auf „An“ schalten und sich einen Stöpsel ins Ohr stecken und da kommt Geflüster raus. Aber das ist nicht aufgeladen. Und noch eine Pistole, aber keine echte. Der Pfeil ist aus Pappe. Dann gibt’s eine Shrek-Figur, die ist von Mc Donald’s und die sagt „Hey, hey, hey“, wenn man einen Knopf drückt. Und einen Teddybär, der hat eine Kapuze mit Hasenohren. Und noch so Ringe, die leuchten, glaub ich, in der Nacht. Aber das weiß ich nicht so genau.

Den Flummi hab ich mal beim Schulfest gewonnen. Dann hab ich den angebissen, weil ich Gummi immer so anbeiße. Der Flummi ist kaputtgegangen deswegen, aber der kann immer noch hopsen. Und das hier ist so ein Ding von einem Lolli, den hab ich aufgegessen und dann hab ich das Ding behalten, weil man das als Schwert benutzen kann. Und das da ist eine Schlafmedaille, die hat unser Papa mal gemacht, für wenn wir früh schlafen gehen. Das sind die wertvollsten Sachen, die ich hab. Ich guck die mir sehr viel an. Ich weiß nicht, ob ich der reichste Junge bin. Aber ich war schon bei vielen zu Hause und da hab ich keine großen Schatztruhen gesehen. ROCKY KÜPPERS

Das Foto von der Fassade

Ich habe ständig mehrere Koffer in Berlin. Vorkriegsware aus Familienbesitz, die meine Vergangenheit verwahrt. Dort liegt sie also, in Form von Briefen, Fotos, Eintrittskarten, ähnlich fragmentiert und in Schichten abgelagert wie meine Erinnerung. Der kleinste der Koffer ist schon seit vielen Jahren verschlossen – und als der Deckel hochspringt, erblicke ich, wie insgeheim erhofft, mich selbst. In sehr jungen Jahren also, wäre da nur nicht dieses ernste Gesicht, dieser müde, uralte Ausdruck in den Augen. Was war da passiert? Je tiefer ich grabe, desto unangenehmer wird die Ahnung. Ich stoße auf die Geschichte meiner ersten, großen, gescheiterten Liebe zu einem Mann – übrig blieben nur Aufnahmen, die mich selbst zeigen, ganz allein. Die vielen Schwarz-Weiß-Porträts, die ich von ihm gemacht hatte, er hat sie alle verbrannt. Melodramatisch auf dem Gasherd in der Küche, melodramatisch, wie es seine Art war. Ich finde einen Splitter von jenem Geschirr, das er in seinen Wutanfällen zertrümmert hat und das meiner Lieblingstante gehört hatte. Ein Foto von meinem Auto, das ein Freund von ihm zu Klump gefahren hat.

Und dann, dann war da noch das Foto von dem Blick, den ich in dieser Zeit von meinem Schlafzimmer am Berliner Helmholtzplatz hatte: „Ich liebe Dich“ hatte jemand auf die gegenüber liegende Fassade gepinselt. Irgendjemand, denn der Mann, den ich liebte, er hatte ja nie wirklich an die Liebe unter Männern geglaubt. Manche Erinnerungen bleiben wirklich besser im Koffer. MARTIN REICHERT

Das Geheimnis der Schildkröte

Zu Weihnachten habe ich meiner Frau eine Schatzkiste gekauft. Eine kleine, glatte Holzkiste, sie kommt aus Madagaskar und ein verborgener Mechanismus hält sie verschlossen. Die Händlerin hat mich herumprobieren lassen, ich habe geruckelt und gedrückt, bin ungeduldig geworden, habe gezerrt, sie ließ mich zappeln. Dann bog sich ihr Lächeln ins Triumphierende und sie führte vor, wie der unsichtbare Riegel betätigt werden muss.

Jetzt ist natürlich die Frage, was ich in die Kiste stecke. Auf dem Deckel haben die Madagassen eine Schildkröte gemalt, eigentlich ein durchaus unromantisches Tier. Und da die Frau, die ich liebe, Diplom-Ingenieurin ist, besteht ein hohes Risiko, dass sie die Kiste nach wenigen Sekunden mit unverschämter Leichtigkeit aufhat. Es kommt also darauf an, was ich reintue. Eine Botschaft. Das Selbstauslöser-Kussfoto aus Leipzig? Hat sie letztes Jahr bekommen. Gutscheine? Würden alles kaputtmachen. Rose? Kitsch. Kleider? Zu groß. Ohrringe? Soll sie endlich mal die drei Paar tragen, die ich ihr geschenkt habe. Eigentlich habe ich null Zeit, darüber nachzudenken. Ich arbeite. Und das Jahr dauert nur noch wenige Stunden.

Ich schaue die Kiste an und die Schildkröte auf dem Deckel. Mir fällt das Buch Momo ein, dort gibt es eine Schildkröte. Kassiopeia, ein Wesen so langsam, dass es außerhalb der Zeit steht. Momo und Kassiopeia holen den Menschen ihre Stunden zurück. Jetzt weiß ich, was ich in die Kiste tun muss. Ein Geschenk, das man nicht sehen kann. Zeit. GEORG LÖWISCH