Irgendwer wird uns schon warnen

Atom und ALLTAG Wo kommt mein Essen her? Ist das Wasser verseucht? Fragte sich unser Autor, als er nach Japan reiste. Nach ein paar Monaten im Land ist er gelassener – ihm bleibt auch kaum etwas anderes übrig

■ Was? Am 11. März 2011 kam es am Nachmittag in drei Blöcken des Atomkraftwerks Fukushima zu Kernschmelzen. Dem gingen ein Erdbeben und ein Tsunami voraus.

■ Und nun? Am Wochenende erscheint eine besondere Ausgabe der sonntaz, die sich ausschließlich mit Japan beschäftigt.

VON FELIX MILKEREIT

Alles drehte sich um Fukushima. Bevor ich im vergangenen November nach Japan flog. Meine japanischen Freunde meinten, der Atomunfall würde im Ausland „aufgebauscht“. Statt mit den Opfern des Tsunamis zu fühlen, sorgten sich alle nur wegen der Strahlung. Zu Hause in Deutschland regierte dagegen eher Panik.

Überall war vom Super-GAU Fukushima die Rede. Freunde und Verwandte versuchten mir die Reise auszureden. Japan war in ihren Augen gänzlich verstrahlt. Was sollte ich tun, wie mich im Alltag in Japan verhalten? Was ist dort überhaupt Alltag nach Fukushima? So kam ich am Flughafen Tokio-Narita an. Ein verunsicherter Ausländer, hin und her gerissen zwischen Panik und Gelassenheit.

Ich habe wenig Ahnung von Radioaktivität. Und ich wollte mich in nichts reinsteigern. Aber dass meine Unwissenheit mich vor Strahlung nicht schützte, war mir klar. Ich fragte mich: Wie ist das mit den Lebensmitteln? Was kann ich essen? Und wie belastet ist das Regenwasser? Was mache ich, wenn es regnet?

Samurai im Regen

Bekannte, die in Japan leben, erzählten mir oft, die Medien gäben nicht viel Auskunft. Die lückenhafte Informationspolitik der Regierung machte es noch schwerer, an verlässliche Informationen zu kommen. Offiziell hieß es, die Strahlungsbelastung sei unbedenklich. Sollte ich dem glauben?

Einer meiner Freunde lebt nördlich von Tokio in Saitama. Dort wurde erhöhte Strahlung gemessen. Wenn er in einen Regenschauer geriet, dann ging er zu Hause sofort unter die Dusche und wusch seine Sachen.

In meiner zweiten Woche in Japan passierte es. Das Wetter war gut, ich hatte keinen Schirm dabei. Abends fing es plötzlich an zu regnen. Zuhause duschte ich sofort und steckte meine Sachen in die Waschmaschine. Am nächsten Tag dasselbe. Schirm vergessen, Regen. Und dann sah ich, dass viele Leute ohne Regenschirm gar nicht versuchten, den Wassertropfen auszuweichen. Im Hagakure, einer Art Handbuch für Samurai, steht: „Ein Mann, der unterwegs von plötzlichem Regen überrascht wird, rennt die Straße hinunter, um nicht nass und durchtränkt zu werden. Wenn man es aber einmal als natürlich hinnimmt, im Regen nass zu werden, kann man mit unbewegtem Geist bis auf die Haut durchnässt werden. Diese Lektion gilt für alles.“

Danach machte ich dann keinen großen Aufwand mehr. Ich begann zu akzeptieren. Sollte der Regen wirklich gefährlich sein, würde man uns im Wetterbericht schon warnen.

Auch bei den Lebensmitteln machte ich mir anfangs unglaublich viele Gedanken. Was darf ich kaufen? Was könnte verstrahlt sein? Die Botschaft des Fernsehens war klar: alles unbedenklich. Wissenschaftler und Stars warben für Produkte aus Fukushima. Comedians veranstalteten Wettessen mit Lebensmitteln aus der Region.

Bei einem Japanbesuch sagte Lady Gaga über die Strahlungsgefahr: „Ich fühle mich absolut sicher!“ Dabei nippte sie an einer Tasse grünem Tee. Tee aus Fukushima war eines der ersten Produkte, von dem es hieß, es könnte verstrahlt sein. Wie viel zahlen sie denen eigentlich dafür?

Es gab Ratschläge. Ich solle auf die Herkunft von Lebensmitteln achten, sagte ein Bekannter. Aber in Japan werden nur die Daten der Vertriebsfirma angegeben, nicht, woher zum Beispiel die Bestandteile der Instant-Nudelsuppe stammen oder wo das Getreide für mein Brot angebaut wird.

Aber es gibt ja das Internet. Also surfte ich vor dem Einkaufen. Das wurde mir bald zu anstrengend. Für jede Meinung gibt es einen Blog, für jede Haltung eine Webseite. Ich redete mir ein, dass kein Geschäft so verantwortungslos sei, seine Kundschaft zu vergiften. Und ich achtete wieder mehr auf den Preis als auf die Herkunft meines Essens.

So wie viele andere in Japan versuchte ich die Sorgen über die Strahlung aus meinem Alltag zu verbannen. Anfangs war ich ständig auf der Hut, suchte täglich nach Informationen. Doch ich konnte nur schwer einschätzen, was verlässlich war und was nicht. Zugleich schienen sich die Leute in meiner Umgebung wenig Gedanken darüber zu machen. Irgendwann war ich so weit, mich ihnen anzuschließen.

Sich ohne verlässliche Informationen täglich einer unsichtbaren Gefahr bewusst zu sein, ist erheblicher Stress. Und wenn alle um einen selbst herum sorgenfrei zu leben scheinen, hört man irgendwann auf, sich Sorgen zu machen.

Der große Flipper Tokio

„Setsuden“ – dieses Wort ist seit Fukushima überall zu lesen. Es heißt Stromsparen. Denn viele Reaktoren wurden für Wartungen abgeschaltet. Aber wie spart man Strom, ohne auf Dauerbeschallung und -beleuchtung zu verzichten? Besonders in Japan, wo selbst Klobrillen sprechen?

Anfangs bemerkte ich gar nichts vom Stromsparen. Als ich abends durch Tokio zog, blinkte und strahlte es überall. Getränke-, Zigaretten- und Fastfood-Automaten leuchteten mir wie immer den Weg nach Hause. Wie in einem riesigen Flipper.

In meiner Wohnung – ich lebe in einem Haus, das sich mehrere Mieter teilen – schaltete ich anfangs die Klimaanlage nicht ein, um Strom zu sparen. Doch meine japanischen Mitbewohner machten sich anscheinend keine Gedanken. Fernseher, Klimaanlage, Trockner, Spielkonsole. Alles lief auf vollen Touren.

Aber war es nicht meine Aufgabe, Strom zu sparen? Und warum machte ich das eigentlich, wenn das andere überhaupt nicht kümmerte?

Doch natürlich sparte Japan Strom. Nach und nach fiel mir auf, dass vor allem staatliche und öffentliche Einrichtungen ihren Verbrauch drosselten. Während die Einkaufs- und Vergnügungsmeilen Tokios weiter strahlten, war in Bibliotheken und Bahnhöfen jede zweite Lampe aus. Die U-Bahn-Gesellschaft macht Werbung für LED-Lampen, die nun installiert werden sollten. Weil sie angeblich sparsamer sind als andere. An manchen Universitäten gibt es Aufkleber unter den Lichtschaltern: „Rettet Japan! Spart Strom!“

Urlaub mit der Katastrophe

Überall werden Produkte angepriesen, die helfen sollten, weniger Strom zu verbrauchen. Sparsame Klimaanlagen und Küchengeräte, Bewegungssensoren und Zeitschaltuhren. Elektrofirmen schalteten Anzeigen, um den Japanern „Setsuden“ schmackhaft zu machen. Prominente warben für ein „neues Energiebewusstsein.“ Doch von der Notwendigkeit der AKWs ist man weiterhin fest überzeugt. Viele erklären mir, ohne Atomstrom gingen in Japan die Lichter aus.

Wochen nach meiner Ankunft fiel mir der Slogan einer Kampagne der Eisenbahngesellschaft Japan Railway auf: „Auf nach Tohoku!“ – so heißt die Gegend, in der Fukushima liegt. Werbung für Katastrophenurlaub?

In den Clips tourten glückliche Frauen durch traditionell eingerichtete Hotels, probierten regionale Speisen und bestaunten die Natur. Von den Folgen des Erdbebens, Tsunami oder des Reaktorunglücks war nichts zu sehen. Wieso ausgerechnet jetzt diese Werbung?

Eine neue Schnellbahn nach Tohoku war gerade fertiggestellt worden. Und das Geld der Touristen soll der Region helfen, so sagt es jedenfalls die Regierung. Die offizielle Gefahrenzone erstreckt sich nur 20 Kilometer um das havarierte AKW. Auch die Werbebroschüren der Präfektur Fukushima erwähnten die Zone nicht und versicherten, alles sei in Ordnung. Also auf nach Tohoku!

Politik und Wirtschaft versuchen unverdrossen, den Anschein zu erwecken, alles sei normal. Als wäre nie etwas geschehen. Kein Tsunami, keine Radioaktivität. Manchmal stelle ich mir absurde Durchsagen im Zug vor: „Bitte nicht nach rechts schauen, das könnte Ihnen die Stimmung verderben!“ Oder kleine Dialoge unter Katastrophentouristen. „Ein Foto noch bei den zerstörten Häusern, Schatz! Das wirkt so romantisch!“

Alltag nach Fukushima ist vor allem der Versuch, den Status quo zu bewahren. Verständlich, denn Panik ist keine Lösung. Ignoranz allerdings auch nicht. Das Hagakure lehrt, den Regen zu akzeptieren. Noch versucht Japan, nicht nass zu werden.

Der Autor ist Japanologe und lebt während seines Auslandsaufenthaltes sechs Monate in Japan. Er pendelt zwischen Tokio und der Stadt Tsukuba, die 150 Kilometer von Fukushima entfernt liegt