Flöhversuch vom Hintermann

Wie soll sich ein Großstädter verhalten, wenn ein Taschendieb sein Unwesen treibt?

Der Verlust von Rucksack-außentascheninhalten kann sehr schmerzlich sein

„Gedränge nur dem Dieb gefällt – drum Augen auf und Hand aufs Geld!“ Mit diesem flotten Zweizeiler warnen die Berliner Verkehrsbetriebe vor Taschendieben. Niemand hält sich daran, denn eine U-Bahn voller Fahrgäste, die alle argwöhnisch um sich schauen, eine Hand an der Haltestange, die andere in der Mantelinnentasche, das sähe nun wirklich albern aus. Trotzdem ist Vorsicht geboten, bedenkt man nur die vielen perfiden Tricks, deren sich die Langfinger bedienen. Wie wir von „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ wissen, beschmieren sie ihre Zielpersonen bisweilen mit Senf vom Imbisspappteller, bevor sie unter wortreichen Entschuldigungen zur Straftat schreiten. Betroffen hiervon ist jedoch meist der ahnungslose Besucher aus der Provinz. Großstädter kommen kaum mit Senfanwendern in Berührung, da sie öffentliche Wurstesser meiden gelernt haben – aus der Erfahrung heraus, dass diese sich niemals gleichzeitig auf Wurst und Mitmensch konzentrieren können und daher potenzielle Unheilsbringer sind.

Es bleibt aber noch der gemeine einzelgängerische Dieb, der mit geschickten Fingern seinen Nebenmann flöht bzw. in Rucksackaußentaschen eindringt. In Berlin ist er, so heißt es, besonders oft am U-Bahnhof Hallesches Tor im Einsatz. Nun trägt selbstverständlich kein vernünftiger Großstädter sein Portemonnaie in der Rucksackaußentasche spazieren – mit Ausnahme von Frau H., die ich an dieser Stelle routinemäßig ermahnen möchte, sich diesen Leichtsinn nicht wieder anzugewöhnen. Der Verlust von Rucksackaußentascheninhalten kann sehr schmerzlich sein. Ich möchte weder auf mein Schweizermesser noch meinen zusammenklappbaren Schuhlöffel oder die schöne japanische Lippenstiftdose mit Deckelinnenspiegel verzichten müssen. Daher gebe ich immer gut auf meine Rucksackaußentasche Acht, und es wird schon ein Meisterdieb antreten müssen, mich von meinem Erste-Hilfe-Set zu trennen.

Wie aber soll man sich verhalten, wenn ein grobmotorischer Anfänger am Werk ist, den man auf frischer Tat ertappt? Bis vor kurzem hatte ich kaum darüber nachgedacht; höchstens vermutet, ich würde wohl im entscheidenden Moment mein Hab und Schweizermesser verteidigen. „Hilfe, Polizei“, riefe ich dabei niemals, auch wollte ich nicht gemeinsam mit ordnungsliebenden Mitbürgern einen Dieb stellen und womöglich am nächsten U-Bahnhof den BVG-Schergen ausliefern. Aber „Pfoten weg!“, könnte ich zum Beispiel sagen, oder, in scharfem Ton: „Lassen Sie das gefälligst, Sie Stümper!“ Je nach Körpergröße des Abstaubers käme auch eine hochgezogene Augenbraue in Frage, gefolgt von einem geraunten „An deiner Stelle würde ich meine Hände besser bei mir behalten“ – eine Reaktion, die Sozialwissenschaftler sicherlich schon längst urban response nennen.

In diesem Sommer stand ich fast allein auf der langen Rolltreppe am Halleschen Tor und ließ mich zu den Gleisen emportragen. Ich war nicht in Eile. Der Herr hinter mir hatte zunächst Angst gehabt, eine Bahn zu verpassen und mehrere Stufen auf einmal genommen, sich dann aber ruhig hinter mich gestellt. Jetzt bemerkte ich, dass er den Reißverschluss meiner Rucksackaußentasche aufzog. Sollte das etwa . . . Es galt zu handeln! Ich drehte mich zu ihm um: „Entschuldigung“, sagte ich, „machen Sie sich da etwa an meinem Rucksack zu schaffen?“ Er entfernte seine Hände von meinem Rücken und legte sie auf seine Brust. „Aber nein!“, antwortete er freundlich und stieg die Treppe entgegen der Fahrtrichtung wieder hinab. „Dann ist ja gut“, knurrte ich zu allem Überfluss auch noch. Später, oben, auf dem Bahnsteig. CAROLA RÖNNEBURG