Beckett guckt Beckenbauer

Wie der Weltspitzenliterat einmal Siegfried Unseld und Peter Handke wegen eines Fußballspiels sitzen ließ

Den Erinnerungen des ehemaligen pardon-Redakteurs und Werbemannes Rainer Baginski, „Das drittletzte Kind“, ist eine Begebenheit zu entnehmen, auf die man zuweilen in Interviews mit dem Frauenforscher Peter Handke gestoßen war, die jedoch erst bei Baginski in wahrer Überzeugungsstrahlkraftpracht auf uns wirkt. „Vor Jahren“, heißt es da, sei Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld nach Paris gereist, um seinen Starautor Samuel Beckett in der „Brasserie Lipp“ zu treffen. Aus reinem Zufall ist nun auch Peter Handke an der Seine aufhältig, und aus gleichermaßen purem Zufall trifft Handke auf Unseld, von dem er, Handke, erfährt, dass er, Unseld, den Beckett treffen werde zwecks bedeutsamer Konsultationen oder Cocktailkonversationen.

Handke stutzt wohl und erbittet, dabei sein zu dürfen, den Beckett wolle er schon lange mal kennen lernen. Unseld willigt ein und ermahnt Handke zur Pünktlichkeit, in Fragen der Pünktlichkeit nämlich sei der Weiberfex Beckett penibel.

Folgenden Tags harrt das Duo Unseld & Handke des Weltfrauenfachmanns. Um zwölf Uhr mittags erscheint Beckett. Das bedeutsame Gespräch beginnt, nimmt seinen Lauf und endet um 15 Uhr. Handke bringt während dieser drei bedeutenden Stunden kein Wort heraus. „Pünktlich um 15 Uhr“, so Baginskis Kolportage, „erhebt sich Beckett und teilt mit, er müsse leider dringend gehen. Er muss im Fernsehen Fußball gucken. ‚Wie bitte?’ Peter Handke hat wohl nicht richtig gehört. Mit einemmal kann auch er fließend sprechen. Entgeistert fragt er Beckett, ob der wirklich Fußball gucken gehe. Samuel Beckett macht Peter Handke mit Nachdruck deutlich, dass er jeden Tag mehrere Stunden Fußball guckt, dass es für ihn nahezu nichts gibt, das der Bedeutung von Fußball gleichkommt. Und sagt adieu und geht.“

Was Baginski verschweigt: Beckett schlägt auf der Straße den Weg zum nächsten Supermarché ein, eilt durch dessen Gänge, reißt zwei Sixpacks Kronenbourg-Bier aus dem Regal, rennt zur Kasse, bezahlt hektisch und hetzt nach Hause.

Dort angekommen, drückt er außer Atem den Fernsehknopf, zerrt aus der Tüte fahrig eine Flasche Bier, blickt währenddessen auf das flackernd sich aufbauende Schwarzweißbild und sieht schemenhaft Gerd Müller aus der Drehung einen Kullerball knapp neben das Tor platzieren.

Eine Genie! Ein Künstler! Ein Jahrhundertmensch!, entfährt es Beckett. Längst sitzt er auf der Raufasercouch, seine linke Hand führt gedankenverloren die Flasche zum Mund, mit der rechten fingert er nach einer Filterlosen, er stellt die Pulle ab, und es ist ja wirklich piepegal, ob Deutschland–Italien, damals, Mexiko, 1970, gegen 15 Uhr lief, Hauptsache, Samuel Beckett hängt da rum und glotzt ganz versessen auf Müllers Stiefelsticheleien, auf Müllers Hüftakrobatik und Ballliebeleien, außer sich gerät der alte Irenhaudegen bei Overaths Antritten, und in großes Entsetzen versetzen ihn Beckenbauers Tändeleien, Beckenbauer, der komische Tänzer und beinahe schwebende Balltätschler, nein, Beckenbauer bringt diese Deutschen noch um den verdienten Lohn der sauren Arbeit, vor den Lohn, so nämlich denkt Beckett jetzt, haben die Götter laut Hesiod noch immer den Schweiß gesetzt, und dieser Beckenbauer, der schwitzt ja nicht einmal, der Anblick Beckenbauers macht einen verzweifeln, Angst macht einem diese Leichtigkeit und Leichtfertigkeit, Beckenbauer, kein schlechter Mann, sicher, aber er sollte sich ein Vorbild an Overath nehmen oder an Seeler, dem Tapferen, der rennt sich die Lunge aus dem Leib wie ich nach dem Bier, dieses Spiel macht Durst, viehische Temperaturen herrschen da ja in diesem Mexiko, wie man da Fußball spielen, wirklich und in allem Ernst Fußball spielen kann, das entzieht sich meiner Erkenntnis.

Beckett öffnet eine neue Flasche Bier und sieht Held scheitern. Schulz ist auch ein Mann, der zum Scheitern geboren ist, denkt Beckett, oder Haller, der wird alles zunichte machen. Ein Pfiff des Schiedsrichters Yamasaki unterbricht das nervenaufreibende Match.

Andké, diese Stutzer, diese sprachlose und in seine Bücher so sprachschaumige kleine Schummelpoet, diese Andké weiß nix von Leben, denkt Beckett und wendet sich wieder dem Wesentlichen zu, wo „Facchetti knüppelt völlig ungestraft. / Der Boden bebt. Es geht um Kopf und Kragen.“ (Ror Wolf)

„Beckett guckt Beckham“ wäre auch ein Titel für diese Geschichte gewesen. Setzen wir ihn einfach hier unten einmal hin. Und legen wir uns pünktlich zum 31. Mai eine passende Kragenweite für die vielen sprachlos machenden dicken Hälse zu, die uns Pfeifen vom Schlage Yamasakis oder Janckers bescheren werden.

JÜRGEN ROTH