die wahrheit: Schweizer Zugverlust

Vor über dreißig Jahren warb die Schweizerische Bundesbahn (SBB) mit dem Slogan "Der Kluge reist im Zuge"...

Vor über dreißig Jahren warb die Schweizerische Bundesbahn (SBB) mit dem Slogan "Der Kluge reist im Zuge". Ob das stimmt, sei dahingestellt, insbesondere in einem Land, in dem ein Luftfahrtexperte wie Hartmut Mehdorn das Bahnwesen zielstrebig ruinieren darf. Aber selbst unter Mehdorns Fuchtel ist das Zugfahren bequemer als das Autofahren - wenn sich nicht gerade eine Herde Schafe auf der ICE-Strecke tummelt.

Bei der Reise im Zug von Genf nach Sils-Maria im Oberengadin geht es ziemlich hoch und runter und um viele Ecken herum: zuerst am Genfer See entlang, dann das Wallis hoch, über den Oberalpass, das Rheintal runter und dann wieder hoch durch den Albulatunnel ins Engadin. Etwa auf halber Strecke, im Vorderrheintal zwischen Reichenau und Chur, meldete sich nach dem längeren Besuch des Speisewagens die innere Natur zu Wort. In den Eisenbahnwagen der Rhätischen Bahn, die unter älteren Eidgenossen als Beitrag der Schweiz zu den Weltwundern zählt, funktioniert die Toilette noch mit Direktsicht auf die Gleise. Beim Bücken nach dem Spülgriff glitt das lederne Etui mit drei Kredit- beziehungsweise Postcards, zwei Bahncards und einer Telefonkarte unaufhaltbar aus der Brusttasche des Hemds durchs Loch hinunter.

Vom ersten Schrecken erholt, sah ich nur, dass wir eben einen Bahnhof passiert hatten, ohne dass dessen Name lesbar war. Der Zug bremste danach etwas ab und der nächste Stationsname lautete Chur-West. Nach wenigen Kilometern kam der Zug im Churer Hauptbahnhof an.

Meine Begleiterin blieb im Zug. Ich rannte vor den Bahnhof und verwirrte den Taxifahrer mit der Zielangabe: "Zum Bahnhof eine Station vor Chur-West." Nach etwa zehn Kilometern lud mich der Fahrer am Bahnhof Felsberg aus. Da gab es drei Gleise. Wo sind meine Kreditkarten und Bahncards? Ich begann auf den Gleisen rauf und runter zu laufen. Dabei passierten zwei Züge, die mich von den Gleisen pfiffen. Nachdem der zweite Zug durch war, beobachtete der Taxifahrer den Verkehr und warnte mich. Ziemlich verschwitzt fand ich nach etwa einer Viertelstunde angestrengten Laufens drei Kreditkarten, das Lederetui und die deutsche Bahncard. Fehlten also nur noch die schweizerische Bahncard und die Telefonkarte.

Der Taxifahrer brachte mich zurück nach Chur. Am Schalter meldete ich den Verlust der schweizerischen Bahncard und erhielt sofort eine Ersatzbahncard. Aber ich hatte keine Fahrkarte nach Sils, denn die war mit meiner Begleiterin unterwegs. "Kein Problem", meinte der Mann am Schalter, nahm einen Zettel und schrieb handschriftlich drauf: "Fahrkarte ist bereits in Sils (Frau)" - Datum, Stempel und Unterschrift. Mit diesem Ersatzfahrschein gelangte ich genau eine Stunde später nach Sils.

Mehrere Tage danach hörte ich den Anrufbeantworter in Frankfurt ab: "Ich bin der Stationsvorsteher in Reichenau. Einer unserer Streckenarbeiter hat Ihre Bahncard gefunden. Was sollen wir damit machen?" Wahrscheinlich hatte einer der Lokführer, die mich von der Strecke pfiffen, Meldung erstattet, weil er vermutete, irgendein Irrer mache sich an den Gleisen zu schaffen. Wenn vielleicht nicht die Klugheit, so reist jedenfalls das Glück im Zuge.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.