das leuchten der reisstrohmatte von JOACHIM SCHULZ
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Wer bin ich? Was will ich? Und was ist die Welt – außer rund? Das sind so Fragen. Fragen, die Raimund sich stellt – und auch beantworten will.

Ich freilich möchte auch etwas wissen: Ich sitze vorm Café am Goetheplatz, sehe Raimund vorübergehen und winke ihm zu; er kommt herüber, setzt sich, und eigentlich möchte ich mich darüber aufklären lassen, warum er einen halbvollen Putzeimer durch die Stadt trägt, in dem ein Fensterleder schwimmt. Raimund jedoch lässt mich gar nicht zu Wort kommen, denn wenn er mit existentiellen Dingen beschäftigt ist, reißt die Wucht seiner Überlegungen ihn stets mit sich fort: „Sind wir nicht längst verlorengegangen im Gewusel der Welt?“, sprudelt es aus ihm heraus: „Was ist unser Ziel, wo sind die Träume geblieben, die wir einmal hatten?“ Ich hole Luft, um ihn zu fragen, ob er früher tatsächlich von einer Karriere als Fensterputzer träumte. Er aber lässt sich nicht unterbrechen: „Ich will Wahrheit und Klarheit! Und dazu brauche ich Stille – Befreiung von der Tyrannei des Gequakes und Gefiedels, das überall aus den Lautsprechern quillt!“ Ich mache: „Äh …“, denn gerade kommt mir die Idee, dass es womöglich das kontemplative Gleichmaß des Fensterwienerns sein könnte, in dem er Erlösung sieht. Doch wieder würgt er mich ab: „Was ich brauche, ist Ruhe, meditative Versenkung! Und ich habe gefunden, was mir dazu verhilft: Geflochten nach den Gesetzen von Yin und Yang, veredelt mit einem Hauch von reinem Chi – hier“, und mit diesen Worten weist er auf den Eimer, um dann einen Schrei auszustoßen, der so laut ist, dass ein Fahrradfahrer vor Schreck gegen einen Lampenmast fährt. „Wo ist sie?!“, ruft er: „Wo ist meine chi-veredelte Reisstrohmatte?!“ Dann schlägt er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Ich weiß!“, sagt er: „An der Ampel in der Adalbertstraße hab’ ich das Bündel mit der Matte kurz abgestellt, gleich neben mir wurden die Fenster der Sparkasse geputzt – ich muss da irgendwas verwechselt haben, als die Ampel auf Grün sprang, o Gott!“ Und schon saust er Richtung Adalbertstraße los, und ich sause ihm hinterher.

Die Adalbertstraße aber ist völlig mit Menschen verstopft. „Was ist denn hier los?“, frage ich: „Ist der Papst zu Besuch?“ „Keine Ahnung“, sagt ein Mann: „Ich glaube, sie drehen einen Film.“ „Da!“, ruft ein anderer, als ein Polizeihubschrauber auftaucht: „Bestimmt Bruce Willis!“ Raimund drängelt sich an den Leuten vorbei. „Verstehst du?“, schnaubt er: „Gewusel und Gequake allerorten, und überall wird Bruce Willis oder eine andere Flitzpiepe gewittert: Wie soll man das aushalten ohne Reisstrohmatte?“

In diesem Moment gelangen wir an ein Absperrgitter, hinter dem die Straße menschenleer ist. „Was hat das zu bedeuten?“, frage ich eine Frau. „Bombenalarm“, sagt sie: „Vor der Sparkasse steht ein verdächtiges herrenloses Bündel.“ „Bombenalarm?“, stottere ich.

Aber da taucht bereits ein kleines quietschendes Kettenfahrzeug auf, und während Raimund ein krächzendes „Neiiin!“ von sich gibt, sticht der Roboter zwei lange, elektrisch geladene Dornen in das Bündel, das neben einer Fensterputzleiter steht und Sekunden später in einem gleißenden grünen Blitz verglüht.