„Wir brauchen ein Umweltgericht“

Das Gehirn, ein gigantisches neuronales Netzwerk, passt sich dynamisch den sich ändernden Umweltbedingungen an. Die Frage ist jedoch: Wo sind die Grenzen? Professor Detlef Linke, Hirnforscher und Philosoph, versucht eine Antwort zu geben

Interview ANDREA KLAHRE

taz: Herr Professor Linke, der Londoner Erziehungswissenschaftler Christopher Williams fürchtet ein Problem noch unbekannten Ausmaßes: Nicht nur Umweltkatastrophen, auch täglich in die Atmosphäre geleitete Nervengifte wie Blei und Quecksilber könnten die intellektuellen Fähigkeiten von Millionen von Kindern und Erwachsenen massiv beeinträchtigen. Eine apokalyptische Vision?

Detlef Linke: Apokalyptisch bedeutet, dass etwas offenbar wird. Das ist gut für das Handeln. Tatsächlich ist der Preis hoch, den der Mensch bei einer Dauerbelastung mit Schwermetallen zu zahlen hat. Bei einem Anstieg der Bleiwerte in Blut und Knochen nimmt der Intelligenzquotient ab. Die Formel lautet: Bei 10 Mikrogramm Blei auf 10 Milliliter Blut sinkt der IQ um 5 Punkte.

Das ist enorm. Wie ist der Zusammenhang?

Blei ist nun mal ein Fremdstoff für unser Nervensystem, es beeinflusst vor allem die Nervenleitgeschwindigkeit – die Nervenzellen entladen sich nicht mehr synchron –, die Enzymaktivitäten und den Calciumstoffwechsel. Das hat Folgen für die Leistungsfähigkeit und Vielfalt des Gehirns. Es gibt sogar Arbeiten, die Schäden für weniger als 5 Mikrogramm Blei pro Deziliter angeben. Die Daten sind neu und sorgen im New England Journal of Medicine gerade für heftige Debatten.

Auch die WHO nimmt die Bedrohung ernst. In ihrem neuen Programm zur Verbesserung der Umweltbedingungen für Kinder spielen Neurotoxine eine wichtige Rolle. Und Greenpeace hat in einer Ende Juni präsentierten Studie dargelegt: Die Selbstkontrolle der Chemieindustrie versagt beim Schutz der Menschen.

WHO, Greenpeace, die Fachwelt – es ist richtig was los, wenngleich die manchmal damit verknüpfte Weltuntergangsstimmung niemandem hilft. Besonders betroffen sind tatsächlich Kinder – nicht nur die der Dritten Welt, auch die amerikanischen. Am Ende einer Schwangerschaft und in der ersten Zeit nach der Geburt können Blei und Quecksilber das Wachstum und die Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigen. Die WHO-Initiativen sind sinnvoll; um sie unterstützen zu können, sollte man allerdings konkret werden: Ein wichtiges Gift ist Tributylzinn, das beim Anstrich von Schiffsrümpfen verwendet wird und nicht nur das Gehirn schädigt, sondern auch das Hormonsystem. Männer werden zeugungsunfähig, in der Tierwelt lassen sich vermehrt Zwitterbildungen beobachten, aktuell bei Eisbären.

Wie bedeutsam ist Mangelernährung für die intellektuelle Entwicklung?

Das Gehirn des Menschen macht mit rund 1,4 Kilogramm Gewicht etwa 2 Prozent des Körpergewichts aus. Der Energieverbrauch beträgt mehr als 20 Prozent. Von jeglicher Energie, die wir aufnehmen, geht ein Fünftel an das Gehirn. Kinder, die mit 3 Jahren einer Unterernährung ausgesetzt waren, haben mit 11 Jahren einen niedrigeren IQ, auch bei sonst guten Lernbedingungen.

Ist eine solche Entwicklung reversibel?

Das Nervensystem ist außerordentlich anpassungsfähig. Im Falle einer frühen Hirnschädigung, gleichgültig, aus welcher Ursache, bestehen große Kompensationsmöglichkeiten. Andererseits: Wenn es darum geht, schädigende Situationen zu verhindern, kann man gar nicht früh genug anfangen. Wer früh gefördert wird, braucht später nicht so viel aufzuholen.

Wo „wohnt“ die Intelligenz?

Sie richtet sich im Gehirn dort ein, wo sie am meisten geübt wird. Wer ein neues Musikinstrument lernt, nehmen wir das Geigenspiel, belegt damit ein neues Hirnareal. Wer dabei mit den Fingern der linken Hand jede Menge Tastarbeit leistet, in dessen Gehirn wird diesen Fingern mehr Platz zugewiesen. Das Gehirn ist aus dieser Sicht nicht statisch oder ein passiver Filter, sondern dynamisch und passt sich in jedem Moment den sich ändernden Anforderungen der Umwelt an. Von großer Bedeutung ist die Fähigkeit, verschiedene Intelligenzen – sozial, emotional, technisch usw. – miteinander zu verbinden.

Welche Rolle spielen in dem Zusammenhang die Nervenzellen?

Das führt zu der schwierigen Frage: Wer ist der Dirigent? Die Neurowissenschaft geht grundsätzlich davon aus, dass alle Vorgänge als neuronale Prozesse beschreibbar sind. Ob Wahrnehmung, Empfindung oder Erfahrung, alles ist an die Elektrochemie der Nervenzellen gebunden, jede Leistung kann auch als ein Arrangement zwischen verschiedenen Hirnzentren betrachtet werden. So, wie sich öffentliches Bewusstsein aus dem Zusammenspiel von Impulsen entwickelt, bildet sich im Nervensystem individuelles Bewusstsein aus dem Zusammenspiel von Nervensignalen.

Die Evolution hat Millionen Jahre gebraucht, um den Homo sapiens mit einem so filigranen Wunderwerk auszustatten. Laut Williams könnte die globale Entwicklung dazu führen, dass sich unser Gehirn zurückbildet. Auf welcher Ebene?

Wie gesagt, das Gehirn ist das Organ für die Anpassung an die Umwelt. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass die Evolution ein weiter entwickeltes Nervensystem zur Verfügung stellen wird, bei dem Blei und Quecksilber verwertbare Funktionsbestandteile sind. Problematisch wird es, wenn die Anpassungsmechanismen selber geschädigt werden, zum Beispiel die Neubildung von Zellen.

Gibt es hier Zeitgrenzen oder Grenzwerte?

Nein, so wie kein Mensch ganz sicher den Grenzwert dafür bestimmen kann, wann ihm der Kragen platzt. Wir sollten also lieber weiter darauf setzen, unsere Anpassungsmechanismen so wenig wie möglich zu belasten.

Welche Fähigkeiten wären nach der Williams-Theorie dem schleichenden Untergang am ehesten geweiht?

Die Untersuchungen der letzten Jahre haben insbesondere Gedächtnis, Sprache und Geschicklichkeit thematisiert. Wichtig ist auch, dass die emotionale Intelligenz betroffen sein kann; dass sich das Stimmungsprofil ändern kann und wir nervöser und misslauniger werden.

Warum sind Menschen unterschiedlich intelligent?

Menschen sind individuelle Persönlichkeiten mit je eigenen Talenten. Der Intelligenzbegriff suggeriert eine Messbarkeit, die für viele Situationen unpassend ist. Das gilt für die soziale Kompetenz. Auch findet man bei besonders Kreativen nicht selten ein ganz einseitiges Begabungsprofil. Oder: Außerordentliche Leistungen werden oft erbracht, wenn ein Defizit kompensiert werden soll. Motivation spielt also eine entscheidende Rolle. Aber: Auch Motivation und Antrieb können auf der Hirnebene beeinträchtigt werden. Sich dadurch nicht beirren zu lassen ist wichtig, aber kein Freibrief für toxische Pollutionen.

Sie sind einer der wenigen Wanderer zwischen der Neurobiologie und den Geisteswissenschaften. Wo bleibt denn das Ich und alles, was die Seele ausmacht, dem sich die Philosophie seit je widmet?

Mit dem Begriff des Ich überschreiten wir den Horizont des Messbaren. Das Ich ist eigentlich nur ein Zeigewort ohne inhaltliche Bestimmung, das in vielen Situationen verwendet wird, wie „jetzt“ und „hier“. Mal steht „ich“ für Selbstkontrolle, mal für Eigeninteresse. Im übergeordneten Sinn ist „ich“ der Ort unserer Verantwortung. Nicht zuletzt ist es die Instanz, an die man beim Werben für die Aktivitäten der WHO appelliert.

Liegt auch die Seele hinterm Horizont des Messbaren?

Der Begriff der Seele wurde von verschiedenen Denkschulen, vor allem von den neurowissenschaftlich orientierten, durch den des Selbst abgelöst. Der Begriff der Seele hatte Vorteile: Sie verlieren Ihre Seele nicht, wenn Sie sich um andere kümmern. Verwendet man dafür den Begriff Selbstlosigkeit, so klingt das nach Unheil für den, der sich nur am Selbst orientiert. Gerade durch den Sprung über die Grenzen des Ich und Selbst entsteht jedoch ein kreativer Quirl. Sie merken, auf begrifflicher Ebene besteht noch Klärungsbedarf.

Könnte das Ich in eine neuronale Sprache übersetzt werden?

Ja, doch das würde die Verständigung für die meisten Zwecke nicht vereinfachen, da es auch in dieser Sprache nicht immer eindeutig erkennbar wäre. Es nutzt verschiedene Hirnareale als Bühne, tritt in Verkleidungen auf und entzieht sich damit dem Vorstellbaren. Die Naturwissenschaft spricht hier vom unentschiedenen Code, kann diesen allerdings nur schwer beschreiben.

Wie lassen sich angesichts solcher Wirrungen Fragen beantworten, die sich auch die Hirnforschung stellt, wie: Ist der Mensch Herr im eigenen Haus? Bin ich es , der Entscheidungen trifft und für Handlungen verantwortlich ist? Manche Ihrer Kollegen halten die Vorstellung des freien Willens für eine Illusion.

Ich und Gehirn gehen im Schädel eine Wohngemeinschaft ein, in der Rücksichtnahme und Durchsetzungsvermögen das richtige Mischungsverhältnis aufweisen sollten. Die Einsicht der Hirnforschung, dass die Vorlaufzeit bei Entscheidungen unbewusst lang ist, sollten wir berücksichtigen – für mehr Freiheit.

Die Umweltmedizin müsse endlich das Gehirn in den Mittelpunkt stellen, fordert Williams. Die Probleme sind in uns, nicht in der Welt, sagt der Philosoph Thomas Metzinger. Wo ist die Schnittstelle?

Über das Gehirn wird die Umweltfrage zur Innenweltfrage. Wir müssen den Mut haben, uns auf die Welt und das Vexierbild von Innen und Außen einzulassen. Auf politischer Ebene setzt sich der Philosoph Vittorio Hösle in seinem Werk Moral und Politik für eine verfassungsrechtlich verankerte ökologische Verantwortung ein. Er fordert: „Wir brauchen ein Umweltgericht.“

Brauchen wir eines?

Tendenziell ja, auch Entscheider fühlen sich nicht mehr sicher. Ich halte es mit einer Wenn-dann-Formulierung: Wenn wir uns nicht sinnvoll engagieren, müsste der Ruf danach lauter werden. Es wäre gut, das nicht nur lokal oder national zu planen, da sich dann das Problem der Wettbewerbsnachteile ergäbe. Ein internationaler Umweltgerichtshof wäre erstrebenswert. Eine Erkenntnistheorie zur Erzeugung einer Insel der Seligen hilft nicht weiter.