Zahl der Übergewichtigen stagniert: Nicht noch mehr dicke Kinder

Jahrzehntelang stieg der Anteil übergewichtiger Kinder rapide an. In einigen Regionen und Altersgruppen stagniert ihre Zahl aber. Ein Rätsel für Ernährungswissenschaftler.

15 Prozent zu schwer, 6 Prozent fettsüchtig - doch bisher bleibt eine Diabetis-Epedimie unter Kindern aus. Bild: dpa

Endlich eine gute Nachricht aus den Laboratorien der Dickleibigkeitsforscher: Die Übergewichtsraten bei Kindern stagnieren in einigen deutschen Regionen. So sind in Bayern, Niedersachsen und Brandenburg Erstklässler seit den 1980er-Jahren bis zur Jahrtausendwende zwar immer dicker geworden. Seit 2001 sind die Zahlen jedoch teilweise stabil und sogar rückläufig. In Niedersachsen waren im Jahr 1993 8 Prozent der Jungen übergewichtig, während es 2003 10 Prozent waren - und bis heute sind.

Auch in Frankreich, Italien, Spanien und den USA berichten Forscher von diesem Phänomen. Eine Studie mit mehr als 8.000 Kindern unter Leitung der Epidemiologin Cynthia Ogden von den Centers for Disease Control and Prevention ergab letztes Jahr: Die kindlichen Übergewichtsraten haben sich in den 1980er- und 1990er-Jahren verdreifacht. In den Jahren 1999 bis 2006 gab es jedoch keinen Anstieg mehr.

"Das heißt nicht, dass das Problem gelöst ist. Wir müssen die Übergewichtsraten unbedingt verringern", so Ogden. Denn es sind noch 16 Prozent aller US-Kinder über die Maßen dick, weitere 24 Prozent sind leicht übergewichtig. Auch in Deutschland gibt es keinen Grund, von nun an untätig zu sein. Laut der Kiggs-Studie, durchgeführt vom Robert-Koch-Institut, sind derzeit 15 Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen übergewichtig und 6 Prozent adipös, sprich: fettsüchtig.

Einen größeren Anstieg beobachten Gesundheitswissenschaftler vor allem bei stark übergewichtigen, also fettsüchtigen Kindern. Bei niedersächsischen Mädchen beispielsweise stieg diese Zahl in zehn Jahren von 3 auf 5 Prozent. Aber auch bei älteren Kindern sowie bei Kindern aus prekären Verhältnissen scheint der Trend weiterhin nach oben zu gehen.

Doch was ist der Grund dafür, dass in einigen Regionen und in manchen Altersgruppen diese Zäsur beim Gewicht stattfindet? Darüber kann derzeit nur spekuliert werden. Die kindlichen Lebensumstände und die dickmachende Umwelt mit Autos, Fertigprodukten und Fernseher haben sich aber nicht verändert.

Manche Forscher mutmaßen daher, es könnte so etwas wie eine biologische Grenze erreicht sein. "So wie beispielsweise die Körpergrößen über viele Jahre hinweg zugenommen haben und seit etwa 25 Jahren kein Zuwachs mehr zu beobachten ist, weil bestimmte Störgrößen das verhindern", erklärt Martin Wabitsch, Pädiater an der Ulmer Uniklinik.

Hans Hauner, Mediziner an der TU München, meint: "Kinder, die genetisch oder durch ihre Lebensumstände für Übergewicht prädisponiert sind, werden auch weiterhin dick. Hier scheint aber das Potenzial weitgehend ausgeschöpft zu sein."

Möglicherweise haben auch die zahlreichen Interventions- und Präventionsmaßnahmen Wirkung gezeigt. Das zumindest vermutet der Ulmer Forscher Wabitsch. Sein Kollege Hauner hält dies jedoch für unwahrscheinlich, da es keine flächendeckende Prävention gegeben habe. Zudem belegten Studien zu Interventionen immer wieder, dass derzeit bestehende Programme wie lokale "Moppelkurse" langfristig die Kinder nicht schlank halten. "Das Präventionspotenzial ist auf jeden Fall bislang noch ungenutzt", so der Münchner Experte. "Vor allem in Kindergärten und Schulen sind größere Anstrengungen erforderlich."

Rachel Leach von der International Association for the Study of Obesity (Iaso) fordert daher regelmäßig gute Studien, die Übergewichtszahlen und parallel die diversen Anti-Fett-Aktionen zu erheben. "Erst dann kann man auch für jedes Land sagen, ob der Trend anhält und ob und welche Maßnahmen greifen." Bislang verfügen nur die USA über zuverlässiges Datenmaterial.

Panik ist jedoch nicht angebracht, auch nicht im Hinblick auf mögliche Folgeerkrankungen bei Kindern. Denn: Bei einem Drittel der Erstklässler wachsen sich die Pfunde im Laufe ihrer Grundschulzeit wieder raus. Zudem trifft es auch nicht zu, dass alle dicken Kinder unter enormen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden. Die so oft beschworene Diabetes-Epidemie unter deutschen Kindern gibt es beispielsweise gar nicht.

Diabetes tritt dort auf, wo bereits die Eltern oder Großeltern erkrankt sind, nicht nur bei Übergewichtigen. Laut einer Studie von Wabitsch mit 520 Kindern aus dem Jahr 2003 leiden lediglich 1,5 Prozent der adipösen Kinder im Alter zwischen neun und zwanzig Jahren an einer Diabetes-Erkrankung.

Dafür entwickelt jedes dritte mollige Kind erhöhte Blutdruck- und erhöhte Blutcholesterinwerte. Dies belegte eine europäische Studie mit 26.000 Kindern. Dass Moppelkinder jedoch wegen Diabetes und Herzkrankheiten im Erwachsenenalter früher sterben als ihre schlanken Altersgenossen oder als ihre Eltern, ist reine Spekulation. Tatsache ist, dass schon heute die Folgeerkrankungen der übergewichtigen Patienten besser zu behandeln sind als noch vor 20 Jahren.

Weiterhin gebetsmühlenartig von steigenden Übergewichtsraten zu sprechen, wie dies viele Experten in den Medien tun, könnte dagegen schädlich sein. "Ein unangebrachter Alarmismus im Umgang mit übergewichtigen Kindern ist nicht förderlich, weil daraus schnell eine Stigmatisierung in einem ohnehin mit Vorurteilen und Scham behafteten Feld resultiert", so meint etwa Joseph Kuhn vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.

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