BERNHARD GESSLER STETHOSKOP
: Mysterien der Neben- wirkungen

Herr Doktor, ich bekomme immer die Nebenwirkungen!“ Bei diesen Worten meines Patienten stellt sich bei mir schlagartig eine tiefe Müdigkeit ein. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), wie sie offiziell genannt werden, sind von Arzt und Patient gefürchtet – manchmal denke ich: von Ärzten noch mehr als von ihren Patienten.

Was fürchtet der Arzt? Letztlich ist das ein erkenntnistheoretisches Problem. Vier Fragen gilt es, möglichst simultan zu beantworten: Ist die geschilderte Beschwerde wirklich eine UAW der Medikation? Oder ist sie ein (spätes) Symptom der Erkrankung selbst? Oder das Symptom einer psychosomatischen Erkrankung? Oder hat sie vornehmlich eine psychische Funktion innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung?

Die zweite Frage ist meistens einfach zu klären: Symptome einer Erkrankung sind die Leitfeuer der medizinischen Diagnostik: Wenn ich sie nicht auswendig weiß, kann ich sie nachschlagen.

Bei den UAW wird’s schon schwieriger: Kein vernünftiger Arzt würde von sich behaupten, er erinnere sich an alle – oder auch nur die fünf wichtigsten – UAW seiner hundert meist verschriebenen Medikamente. Hinzu kommt: Fast alle unerwünschten Wirkungen sind möglich, aber nicht obligat, also nicht durchgehend vorhanden.

Also eine Frage der Statistik: Gehört der Patient, der mir gegenübersitzt, zu den 0,1 Promille der Anwender, die Durchfall auf das verordnete Medikament bekommen? Und wer will sich diese seltene UAW merken? Dafür gibt’s den Beipackzettel. Das Problem ist nur: Der Waschzettel wird vom Patienten gelesen!

Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern gleichen hier die peniblen Auflistungen der UAW einem Stundenbuch für Hypochonder. Voller Pathos werden die Kranken aufgefordert, alles genauestens nachzulesen. So fördert die pharmazeutische Industrie die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Doch ist ein solcher Dialog auch – man verzeihe mir das schreckliche Wort – zielführend?

Ich komme auf meinen eingangs erwähnten ehemaligen Patienten zurück: Der recht fitte Endsechziger erhielt von verschiedenen Ärzten innerhalb von fünf Jahren tatsächlich 15 verschiedene Bluthochdruck-Medikamente. Und regelmäßig klagte er nach kurzer Medikamenteneinnahme entweder über eine trockene Nase, eine Schwellung seines Gaumenzäpfchens oder einen brennenden Penis. In meiner Verzweiflung konfrontierte ich ihn irgendwann mit seiner Medikationsstatistik. Er zeigte sich kaum beeindruckt. Meine Versuche, das Gespräch daraufhin endlich von den UAW weg und hin zu seiner psychischen Befindlichkeit zu führen, liefen ins Leere. Am Ende blieb bei mir die Ahnung, dass hier ein anderer, untergründiger therapeutischer Prozess stattfand: Die Nebenwirkung war die Blutdrucksenkung, die Hauptwirkung das Gespräch.

■ Der Autor ist Internist in Karlsruhe Foto: privat