GAU bis ins Gehirn?

Amerikanisch-schwedische Studie: Tschernobyl-Regen könnte ungeborene Kinder dümmer gemacht haben

STOCKHOLM taz ■ Hat der radioaktive Regen nach der atomaren Katastrophe von Tschernobyl 1986 ungeborene Kinder so geschädigt, dass sie später schlechtere Schulleistungen erbrachten? Eine neue, noch unveröffentlichte schwedisch-amerikanische Studie legt das nahe.

Verfasst hat sie Mårten Palme, Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Stockholm, gemeinsam mit zwei KollegInnen von der Columbia-Universität New York. Die Wissenschaftler untersuchten die Studienresultate von 562.637 SchwedInnen, die zwischen 1983 und 1988 geboren wurden, am Ende der neun Klassen umfassenden Grundschule. Dabei fanden sie eine deutliche statistische Abweichung bei den Noten von SchülerInnen, die zur Zeit der heftigsten Tschernobyl-Niederschläge in Schweden Embryonen in der achten bis fünfundzwanzigsten Schwangerschaftswoche gewesen waren und aus den Regionen mit den damals höchsten Strahlenwerten stammen: Von ihnen schafften vier Prozent weniger den Eintritt ins Gymnasium, als nach dem üblichen Durchschnitt zu erwarten gewesen wäre.

Die Ökonomieprofessorin und Mitautorin Lena Edlund von der Columbia-Universität führt das in der US-Wissenschaftszeitschrift Chemistry World darauf zurück, dass das Gehirn von Ungeborenen zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft schon durch radioaktive Niedrigstrahlung geschädigt werden kann: „Etwa so, wie es auch einen Unterschied macht, ob man einen Liter Wodka in einer Stunde oder binnen mehrerer Monate trinkt.“

Die ForscherInnen selbst erwarten, dass diese Studie Kontroversen auslösen wird, zumal sich hier Gesellschaftswissenschaftler auf das Gebiet der biomedizinischen Forschung begeben. Der von Chemistry World befragte Radiologe David Brenner bezweifelt denn auch die Schlussfolgerungen: Ein solcher Einfluss von Niedrigstrahlung sei bislang experimentell noch nicht verifiziert worden. Bei Hirnschädigungen von japanischen Kindern nach Hiroshima und Nagasaki waren die Mütter einer wesentlich höheren Strahlendosis ausgesetzt gewesen. Allerdings gibt es seit den Neunzigerjahren auch Studien, die einen Zusammenhang zwischen Niedrigstrahlung und genetischen Veränderungen wahrscheinlich machen.

Der Umweltwissenschaftler Jim Smith von der Universität Portsmouth meint jedenfalls, die neue Tschernobyl-Studie gebe genug Anlass, nun gezielt Untersuchungen in anderen Ländern anzustellen, die von den radioaktiven Wolken betroffen waren. In Schweden hat die Strahlenschutzbehörde SSI bereits reagiert. Ihr Forschungsdirektor Leif Moberg: „Die Studie wirft ausreichend Fragen auf, sodass wir das nun tatsächlich gründlich überprüfen sollten.“

REINHARD WOLFF