„Man nimmt uns durch den Damm ein Grundrecht“

Die antike türkische Stadt Hasankeyf ist durch den geplanten Ilisu-Staudamm bedroht. Ihr Bürgermeister kämpft dafür, ein Stück Menschheitsgeschichte zu retten. Jetzt stehen europäische Kreditbürgschaften zur Disposition

ABDUL VAHAP KUSEN, 47, ist Bürgermeister der antiken Stadt Hasankeyf im Südosten Anatoliens. Die Stadt soll geflutet werden.

taz: Deutschland, Österreich und die Schweiz drohen der Türkei, ihre Kreditbürgschaften für den Bau des Ilisu-Staudammes zu widerrufen, weil das Land Umwelt- und Sozialauflagen ignoriert. Wie haben Sie auf den „Blauen Brief“ an die Türkei reagiert?

Abdul Kusen: Das Ultimatum bedeutet natürlich noch nicht das Ende des Projektes. Denn selbst wenn auch dieses Bau-Konsortium zerbrechen sollte, ist damit noch nicht gesagt, dass die Türkei den Plan aufgeben wird. Aber der Brief der Kreditagenturen an das jetzige Konsortium ermutigt uns, dass wir Hasankeyf retten können.

Bereits im Sommer wurde mit ersten Bauarbeiten begonnen. Wie ist der aktuelle Stand?

Die vorbereitenden Arbeiten, etwa der Bau von Straßen und Unterkünften für Arbeiter, sind im Gang – ebenso wie die Enteignung der Bewohner. Alle Hausbesitzer müssen in den nächsten drei Monaten eine Verzichtserklärung für ihr Haus unterschreiben. Nur so erhalten sie Anspruch auf ein neues. Wer sich weigert, verliert alle Ansprüche.

Was bedeutet die Zwangsumsiedlung für die Bevölkerung?

Viele wissen noch gar nicht, wohin sie ziehen sollen. Außerdem werden durch die Umzüge über Jahrzehnte gewachsene Nachbarschaften auseinandergerissen. Das ist ein Kulturschock.

Welcher Verlust würde Sie persönlich besonders treffen?

Für die Menschen in Hasankeyf ist unvorstellbar, die Gräber ihrer Familien zurückzulassen. Auch ich besuche jeden Tag das Grab meiner Mutter. Das wird nicht mehr möglich sein, wenn die Stadt unter Wasser steht. Man nimmt uns das Grundrecht, die Ahnengräber zu besuchen.

Die Europäer haben ihre Geduld mit der Türkei damit begründet, dass sonst Firmen aus China und Russland vor der Tür stehen, wenn die Europäer aussteigen. Wäre das für die betroffenen Menschen nicht noch schlechter?

Es bringt nichts, Chinesen oder Russen zu dämonisieren. Letztlich spielt es keine Rolle, welches Land den Staudamm baut. Wir werden uns gegen jedes Land wehren, das daran beteiligt ist. Zu sagen, es sei besser, wenn die Europäer den Staudamm bauen, ist so, als würde man jemanden beruhigen, indem man verspricht, ihn auf eine weniger schmerzvolle Art zu töten.

Ist das Vorgehen der Regierung Ausdruck eines Demokratiedefizites in der Türkei?

Das wage ich nicht zu wirklich beurteilen, aber es scheint, dass die Mitsprache der Menschen nicht mit dem zu vergleichen ist, was in Europa üblich ist. Im Fall des Ilisu-Projektes findet eine Beteiligung der Bevölkerung jedenfalls überhaupt nicht statt.

Seit 60 Jahren versucht die Türkei im Südosten Anatoliens den Ilisu-Staudamm zu bauen – bislang erfolglos. Auch der jüngste Bauversuch, an dem Firmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt sind, droht jetzt an den europäischen Exportkreditagenturen zu scheitern. Sie haben am Dienstag damit gedroht, Kreditversicherungen über 450 Millionen Euro zurückzuziehen, wenn die Türkei weiterhin grundlegende Umwelt-, Denkmalschutz- und Sozialstandards bei der Umsetzung des Projektes ignoriert. Etwa 60.000 Menschen würden durch die Aufstauung des Tigris ihren Wohnort verlieren. TA

Können Menschen in Deutschland etwas tun, um zur Rettung von Hasankeyf beizutragen?

Hasankeyf gehört der ganzen Welt und ist ein Erbe für alle Zivilisationen. Auch Menschen in Deutschland, die sich der Geschichte verbunden fühlen, können sich für den Schutz von Hasankeyf einsetzen.

Ist der Staudamm noch zu stoppen?

Solange es Menschen gibt, die für ihre Geschichte kämpfen, solange werden wir eine Chance haben. INTERVIEW: TARIK AHMIA