Die Kluft zwischen den Einkommen wächst

Internationale Arbeitsorganisation warnt davor, bei den Konjunkturpaketen gegen die Krise die Löhne zu vergessen

Die Löhne und Gehälter der deutschen Arbeitnehmer sind im dritten Quartal so kräftig gestiegen wie seit acht Jahren nicht mehr. Die Arbeitnehmerentgelte erhöhten sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von Juli bis September um 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das ist der deutlichste Anstieg seit Sommer 2000, als die Löhne und Gehälter um 3,9 Prozent gestiegen waren. Zugleich stieg die Sparquote mit 11,4 Prozent auf den höchsten Stand seit 1993.Andere Zahlen lieferte gestern das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK): Nach dessen Berechnungen stiegen die deutschen Arbeitskosten im vergangenen Jahr erneut langsamer als im Durchschnitt der EU; dieser Trend habe sich auch 2008 fortgesetzt. Mit 28 Euro pro Stunde lag Deutschland weiter im Mittelfeld der EU – und zwar an achter Stelle hinter Frankreich sowie den Benelux- und den skandinavischen EU-Staaten. RTR, DPA

BERLIN taz ■ Weltweit werden Konjunkturpakete geschnürt, doch der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) fehlt dabei ein Aspekt: „Löhne sollten ein Teil der Geschichte sein“, sagte ILO-Experte Daniel Vaughan-Whitehead am Dienstag in Berlin. Zwar erkenne die Politik, dass privater Konsum die Wirtschaft ankurbele. Die Rolle, die Löhne dabei spielen, wird laut ILO aber kaum berücksichtigt.

Laut der Organisation war die wirtschaftliche Situation auch vor der Finanzkrise nicht durchgängig rosig. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) vieler Länder – darunter Deutschland – sei zwar gestiegen, die Löhne hätten damit aber nicht Schritt gehalten. Für jedes Prozent Wachstum zwischen 1995 und 2007 sind die Reallöhne nur um 0,75 Prozent gestiegen, errechnete die ILO.

Und auch wenn die Lage in Boomländern wie Russland oder China deutlich besser als global betrachtet ausgesehen hat – um 10 Prozent und mehr haben da die Löhne zugelegt –, die Kluft zwischen den höchsten und den niedrigsten Löhnen ist in vielen der Schwellenländer dafür auch besonders schnell gewachsen. Unter den Industrieländern war das übrigens in Deutschland, Polen und in den USA der Fall. Die Ungleichheit zu schmälern gelang am besten Frankreich und Spanien, ebenso Brasilien und Indonesien – wobei gerade dort die Kluft nach wie vor sehr groß ist, schreiben die Autoren des ILO-Berichts zur globalen Lohnentwicklung. Und die Zeiten werden nicht besser, prognostizieren sie.

Fest steht für die Autoren, dass die Schere zwischen besonders hohen und besonders niedrigen Löhnen weiter auseinandergehen und die Ungleichheit der Einkommen von Frauen und Männern groß bleiben wird. Die UN-Organisation erwartet einen Reallohnzuwachs von 1,7 Prozent in diesem Jahr und „bestenfalls“ 1,1 Prozent im kommenden – insgesamt betrachtet. Die Situation wird dabei in den einzelnen Ländern weiter sehr unterschiedlich aussehen: In Japan, Spanien und in den USA zum Beispiel lag das Reallohnwachstum bei null Prozent, in Indien, Mexiko, Polen und Südafrika bei etwa 2 Prozent. „Deutschland muss sich 2009 jedenfalls auf einen Rückgang der Reallöhne einstellen“, sagt Vaughan-Whitehead.

Erst vor wenigen Tagen hatte die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik den deutschen Wachstumszahlen der Vergangenheit die Konsumzahlen entgegengehalten. Während Erstere, gestützt vom Export, zwischen 2004 und 2007 in die Höhe schossen, verharrten Letztere beinahe. Aber woher soll in Zeiten der Rezession das Geld genommen werden, um höhere Löhne zu finanzieren, mit denen der Konsum angekurbelt wird? „Ja, das ist ein Hauptargument der Unternehmer für Lohnzurückhaltung“, sagt Vaughan-Whitehead.

Um ein Unternehmen aber am Laufen zu halten, sollten nicht Löhne als Erstes herhalten, meint der ILO-Experte. Er plädiert für das „Gespräch“ und setzt dabei auf die Sozialpartner: Gemeinsam mit den Regierungen sollten sie sich etwas ausdenken. „Andernfalls wird das die Rezession verschärfen.“

CHRISTINE ZEINER