Brotlaibe im Tank

ZAPFEN Tankstellen sind zwar Orte der Erkenntnis, nicht zwingend jedoch solche der Wahrheit. Denn Fakt ist, dass man die Wahrheit verdrängen muss, will man nicht immer an ölverklebte Vögel denken

VON MARTIN REICHERT

Der Benzinpreis bleibt konstant, wenn man immer nur für zwanzig Euro tankt. Dieser modernen Bauernregel folgen viele Bundesbürger, insbesondere wenn sie nicht über eine Firmentankkarte verfügen oder aufgrund eines schwindelerregenden Einkommens vergessen haben, was ein Pfund Butter kostet. „Volltanken“ ist daher eigentlich ein Wort aus den Sechziger Jahren.

Natürlich handelt es sich bei der Endziffer zwanzig bloß um eine Chiffre für Selbstbetrug. So erinnere ich mich, vor Einführung des Euro immer für zwanzig Mark getankt zu haben. Entsprechend müsste sich bei einer Rechnung von zwanzig Euro die doppelte Menge Benzin im Tank befinden, was aber nicht so ist. Und nachdem ich nunmehr ein Auto fahre, das eigentlich mehr Benzin verbraucht, als der Vorgänger, zahle ich nicht mehr für Benzin, sondern bin bloß häufiger an der Tankstelle.

Irgendwann kennt man den Tankwart mit Vornamen, aber der denkt sich gar nichts dabei, weil es ja alle so machen und er mit dem Benzin sowieso nichts verdient, sondern mit jenen Bockwürsten und neuerdings angebotenen Dampfbratwürsten, die in gläsernen Röhren neben der Kasse vor sich hin schmoren. Benzin, so scheint es, gibt es eigentlich gar nicht. Seine Existenz wird allgemein verdrängt, weshalb großstädtische Passanten einfach mit brennender Zigarette an Zapfsäulen vorbeilaufen, um den Weg abzukürzen oder im Verkaufsraum Dosenbier zu erwerben.

Über Benzin nachzudenken ist auch nicht gut. Nimmt man das Wort „Sprit“ zum Anlass, um sich während des Tankens und angesichts mehrerer sich dem Alkoholgenus hingebenden Bürger im Schatten der Waschanlage Gedanken darüber zu machen, dass man für einen Liter Benzin eine Flasche Rotwein beim Discounter erwerben könnte, bräuchte man eigentlich einen Schnaps.

Man will auch nicht bei jedem Griff zur Zapfsäule an ermordete Iraker, verklebte Seevögel und ansteigende Meeresspiegel denken, weil man ja noch einen Termin hat oder irgendwohin brausen möchte, wo es schöner ist als gerade hier.

Es ist so ähnlich wie abends am Geldautomaten: Natürlich ist der laut hinter dem Kontoauszugsdrucker schnarchende Obdachlose ein Symbol dafür, dass etwas nicht stimmt. Aber man zieht trotzdem seine Scheine und hat dann kein Kleingeld, das man in den Becher vor seinen Füßen werfen könnte.

Doch dann kam der Kraftstoff E10. Grün und verheißend – für die Umwelt, hieß es. Neu und bedrohlich – für den Motor, hieß es. Nie mehr an Deepwater Horizon und Abu Ghraib denken müssen, stattdessen nichts als unendliche Felder voller Weizen und Raps vor Augen. Mit pittoresker Ackerrandstreifenbegrünung und einer zwitschernden Vogelschar darob.

E10, die Chiffre genau dafür, dass es in Zukunft einfach genauso weitergehen wird, wie es immer schon war: brumm, brumm, brumm. Man füllt sich einfach Brotlaibe in den Tank und findet es ganz wunderbar. Immer nur für zwanzig Euro, versteht sich.