Entgeltbefreiung für Industriebetriebe: Unsinnige Berechnung

Die Regierung rechtfertigt Vergünstigungen für stromintensive Firmen damit, dass die Fabriken das Netz stabilisieren. Doch das stimmt so nicht.

Wer viel Strom bezieht, zahlt wenig. Ist das sinnvoll? Nein, sagen Energieexperten. Bild: dpa

FREIBURG taz | Private Haushalte müssen höhere Strompreise zahlen, weil viele große Industriebetriebe von den Netzentgelten befreit sind. Die Bundesregierung hat dafür wie der Bundesverband der Deutschen Industrie eine besondere Begründung: Stromintensive Unternehmen trügen mit ihrem gleichmäßigen Verbrauch zur Netzstabilität bei.

Doch Energieexperten widersprechen nun – und sind sogar vom Gegenteil überzeugt: „Ein Verbraucher kann nur dann netzstabilisierend sein, wenn er sich flexibel verhält und seinen Verbrauch nach den Bedürfnissen des Netzes ausrichtet“, sagt Lars Waldmann von der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende.

Das heißt: Aus Sicht der Netzstabilität geht die Entgeltbefreiung in die völlig falsche Richtung. Denn befreit sind gerade jene Unternehmen, die ohne Rücksicht auf die jeweilige Netzsituation mindestens 7.000 Stunden im Jahr (von 8.760 Stunden) gleichmäßig und in großer Menge Strom beziehen. Dem Netz dienen kann hingegen nur ein Betrieb, der seinen Verbrauch drosselt, wenn Strom knapp ist, und seinen Verbrauch wieder hochfährt, wenn es viel Strom aus erneuerbaren Quellen gibt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Regierungschefinnen und -chefs der 16 Bundesländer für Donnerstag zu einem neuerlichen Energiegipfel nach Berlin geladen. Unter anderem soll es um die sogenannte Strompreisbremse gehen, mit der Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) einen weiteren Anstieg der EEG-Umlage verhindern will.

Die bündnisgrüne Wirtschaftsministerin Evelin Lemke aus Rheinland-Pfalz hatte am Wochenende für eine Zustimmung Korrekturen am europäischen Emissionshandel zur Bedingung gemacht: Dort sind die Preise für eine Tonne Treibhausgase in den Keller gerauscht, weshalb beispielsweise Ebbe im Klima- und Energiefonds der Bundesregierung herrscht. Dieser Fonds sollte etwa Förderprogramme für Energieeffizienz oder zur Entwicklung von Stromspeichern bereitstellen, die nun von einer Streichung bedroht sind. Um die Preise für CO2-Zertifikate zu stabilisieren, will das Europaparlament das Angebot der Papiere verknappen. Das aber lehnt Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) strikt ab.

Die Branche der Erneuerbaren hat am Montag unter dem Titel „Erneuerbare Energiewende Jetzt!“ eine Kampagne gestartet, mit der auf die versteckten Kosten der fossilen Energien aufmerksam gemacht werden soll. Auf einer Abbildung eines Kohlekraftwerks ist etwa zu lesen: "Das kostet mehr, als Sie bezahlen". Der Umstieg auf Erneuerbare bedeute dagegen einen Gewinn für die Gesellschaft, erklärte ein Branchenvertreter. (reni)

Es gibt Unternehmen, die über eine so hohe Flexibilität verfügen und diese auch gerne am Strommarkt anbieten würden – wäre da nicht die unsinnige Berechnung der Netzentgelte.

Bereits im vergangenen Jahr hatte ein Evonik-Manager kritisiert, dass die Entgelte starken Anreiz böten, möglichst gleichmäßig Strom zu verbrauchen. Zur Stabilisierung des Netzes sei jedoch ein „stärkeres Atmen von Verbrauchern dringend nötig“. Firmen wie Evonik seien dazu in der Lage, weil sie stromintensive chemische Vorprodukte auf Vorrat produzieren könnten.

Fünf Minuten abschalten

Wahrscheinlich gibt es sogar mehr Branchen als gedacht, die im Sinne eines stabilen Netzes ihre Produktion variieren könnten. Neben der chemischen Industrie trifft dies vor allem auf die Zementindustrie oder die Metallherstellung zu. Denn auch Zementfabriken können bei hohem Stromangebot ein Vorprodukt fertigen, das sich lagern lässt. Auch viele metallurgische Prozesse lassen sich ohne Probleme für ein bis zwei Stunden vom Netz trennen.

Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft in München hat das Potenzial analysiert: In deutschen Industriebetrieben gebe es Verbraucher mit zusammen 9.000 Megawatt, die für fünf Minuten abgeschaltet werden können. Das entspricht etwa der Leistung von sieben Atomkraftwerken. Für einen Zeitraum von 15 Minuten lassen sich immerhin noch 4.500 Megawatt vom Netz nehmen, für eine ganze Stunde stehen fast 2.500 Megawatt an flexiblen Verbrauchern zur Verfügung.

Auch Dienstleister, die solche Flexibilität vermarkten, gibt es bereits, etwa die Münchner Entelios AG. Sie steuert Firmen mit hohem, aber flexiblem Energiekonsum je nach Situation von Angebot und Nachfrage im Netz – sie vermarktet also Flexibilität beim Stromverbrauch.

Für einige Firmen rechnet sich solch netzkonformes Verhalten trotz der bestehenden Stromnetzentgeltverordnung bereits heute. Es könnten sogar noch deutlich mehr werden, wenn die Rechtslage an die Bedürfnisse des Netzes angepasst würde.

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