Evangelikale Christen: Die Fundis sind los

In den letzten fünf Jahren sind mindestens ein halbes Dutzend Kirchen und religiöse Gemeinschaften entstanden. Vor allem Teams von evangelikalen Christen sind in Berlin aktiv. Sie präsentieren sich oft locker und tolerant - und sind doch fundamentalistisch.

Teams von evangelikalen Christen ziehen nach Berlin, um "Church Planting" zu betreiben. Bild: ap, Markus Schreiber

Gareth Lowe hatte ein Mission. Eine religiöse: "Man kann kaum überschätzen, was es bedeutet, Deutschland für Jesus Christus zu gewinnen." Denn erstens seien zu wenig Deutsche evangelikale Christen, zweitens sei die Bundesrepublik Deutschland ein reicher, mächtiger und strategisch günstiger Ort, um Europa zu beeinflussen. Und schließlich kontrollierten drei Deutsche unsere Welt: Einstein, Freud (!) und Marx. Mit solchen Thesen haben Lowe, seine Frau Taryn und 15 weitere junge Leute von Südafrika aus Mitstreiter gesucht. Ihr Plan: eine Kirche in Berlin gründen.

Lowe war eigentlich Pastor in einer südafrikanischen Stadt. Im Jahr 2006 absolvierte er einen sechswöchigen Gemeindegründungskurs in den USA. Ein Jahr später zog er - Mission einmal anders herum - von Südafrika aus mit seiner Familie nach Berlin. Hier haben er und sein Team tatsächlich eine Gemeinde aufgebaut, die Every-Nation-Kirche in Friedrichshain. Samstagabends feiern sie Gottesdienst mit inzwischen rund 70 Gästen. Und vom studentischen Szenekiez aus wollen sie nun Deutschland und Europa bekehren. Sie sind nicht die Einzigen in Berlin mit diesem Ziel.

In den vergangenen fünf Jahren sind in der Stadt mindestens ein halbes Dutzend Kirchen und religiöse Gemeinschaften entstanden. Dahinter stehen ganz unterschiedliche Menschen und Organisationen: So hat der Theologe Rainer Schacke die Kiezinitiative "Freischwimmer - Kirche zum Auftauchen" ins Leben gerufen, um über Glauben und Theologie zu diskutieren. Die Landeskirche will in Prenzlauer Berg und im Speckgürtel neue Kirchen bauen. Vor allem aber sind Teams von evangelikalen Christen aktiv. Sie ziehen von außen nach Berlin, um hier generalstabsmäßig durchgeplantes "Church Planting" - frei übersetzt: Kirchenpflanzungen - zu betreiben. Viele haben eine Ausbildung bei einer auf Mission spezialisierten US-Organisation absolviert und eine Freikirche als Unterstützung im Rücken.

Laut den aktuellsten Zahlen des Statistischen Landesamts gehören in Berlin 675.000 Menschen der evangelischen Kirche an, 318.000 der katholischen. Die Stadt hat rund 3,4 Millionen Einwohner.

Daneben listen die Datensammler mehr als 40 weitere christliche Gemeinden auf. Darunter die Russisch-Orthodoxe Kirche mit 25.000 Mitgliedern, die Griechisch-Orthodoxe Gemeinde (9.500 Mitglieder), die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Zwingli-Kirche (6.400 Mitglieder) und die Neuapostolische Kirche (25.700 Mitglieder). Aber auch viele kleine Gemeinden: So gibt es 27 Quäker; 55 Menschen fühlen sich der Apostolischen Kirche Urchristlicher Mission zugehörig und 206 der Kirche des Nazareners.

So hatte Lowe in Südafrika als Pastor der His People Christian Church gearbeitet. Die ist wie seine Berliner Gemeinde das Projekt einer Organisation namens Every Nation. Sie hat als Ziel ausgegeben, dass jede Gemeinde alle drei Jahre eine neue Gemeinde gründen solle. "US-geprägte Turbo-Mission", lästern Experten. Doch laut ihrer Internetseite ist Every Nation in bislang 61 Ländern vertreten und in Deutschland dreimal: in Nürnberg, Augsburg und nun auch Berlin.

Südafrika gibt das Geld

Lowes südafrikanische Heimatgemeinde zahlt zwei Drittel seines Gehalts - wie viel das ist, sagt er nicht -, der Rest sind Spenden. Drei seiner 15 Mitstreiter werden auch aus Südafrika finanziert, die anderen haben sich in Berlin Jobs gesucht.

Die Teams der Freikirchen kommen aber nicht nur aus Afrika. Auch von Deutschland aus ist man aktiv. "Innere Mission" heißt das im Jargon. So hatte sich der Bund Freier evangelischer Gemeinden (BFeG) mit Sitz im nordrhein-westfälischen Witten vorgenommen, innerhalb von zehn Jahren 100 neue Gemeinden zu gründen. Tatsächlich wurden seit 2006 fast 40 neue Gemeinden als "Gründungsgemeinde" anerkannt, in Berlin zum Beispiel das "Berlinprojekt" in Mitte. Als jüngster Spross soll das "Kreuzbergprojekt" folgen.

Die Gemeinden wachsen schnell: Das "Berlinprojekt" veranstaltet wöchentlich zwei Gottesdienste mit insgesamt rund 400 Besuchern, der Ableger "Kreuzbergprojekt" hat vor wenigen Wochen seinen dritten Gottesdienst gefeiert.

Viele Freikirchen sind sehr konservativ, mehr als das Gros der Landeskirchen, viele evangelikal oder fundamentalistisch. Das Problem dabei: Die meisten vertreten dies nicht offen, sondern stellen sich betont locker dar; die Hintergründe werden erst klar, wenn man genauer hinschaut. Volker Jastrzembski, Sprecher der evangelischen Landeskirche, sagt dazu: "Die Szene ist sehr unübersichtlich. Mit dem BFeG sind wir über den Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg verbunden. Aber man darf davon ausgehen, dass die meisten freien Gemeinden dem evangelikalen Spektrum zuzuordnen sind." Jastrzembski drückt sich vor einer klareren Antwort - bei der Landeskirche redet man nicht so gern über Freikirchen, zu viele evangelikale und charismatische Christen tummeln sich wohl in den eigenen Reihen.

Thomas Gandow ist Pfarrer für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Eine offizielle Stellungnahme will er nicht abgeben. Missionsdruck? Heimlich evangelikal? "Das haben Sie doch ganz gut beschrieben", grummelt Gandow. "Was soll ich dazu sagen?!"

Der Begriff evangelikal hat in den vergangenen Jahren eine Wandlung durchgemacht. Jahrelang nannte sich so, wer an einen persönlichen Gott glaubte, die Bibel als Wort Gottes ansah und streng nach ihr lebte. Das bedeutete im Allgemeinen nicht nur, die meisten der zehn Gebote einzuhalten, sondern etwa auch, auf Sex außerhalb der Ehe zu verzichten, die Eltern zu ehren und seinen Glauben öffentlich zu bekennen. Demgegenüber wurde als "fundamentalistisch" bezeichnet, wer alles noch ein wenig strenger nahm, etwa die Bibel als wortwörtlich inspiriert und absolut fehlerfrei ansah. Die Grenzen sind fließend.

"Evangelikal" wurde in der Szene anrüchig, seit bekennende US-Evangelikale die Politik George W. Bushs unterstützt hatten. Das weiß Christian Nowatzky, Pastor des Berlinprojekts. "Wir sind ja eine Freikirche, sehen uns aber ganz ausdrücklich nicht als evangelikale Kirche. Und zwar speziell in dem Sinne, dass wir weder Antigay noch ungetrübt pro Israel noch uneingeschränkt Antiabtreibung noch reflexartig politisch konservativ etc. sind", erklärt er. Doch die Aussagekraft dieses Satzes liegt bei null. Alles andere wäre auch erstaunlich: Die beiden "Berlinprojekt"-Pastoren Christian Nowatzky und Konstantin von Abendroth haben ebenso wie "Kreuzbergprojekt"-Pastor Fridtjof Leemhuis an der Freien Theologischen Hochschule Gießen studiert, die sich auf ihrer Website ausdrücklich als "evangelikal" bezeichnet. Als Mutterkirche haben sie sich den BFeG ausgesucht, der vom eigenen Präses Ansgar Hörsting als evangelikal bezeichnet wird.

Der BFeG ist innerhalb dieser Szene sogar besonders konservativ: So wurde 2008 abgestimmt, dass Frauen weiterhin nicht Pastorin werden dürfen. Dementsprechend besteht im Berlinprojekt das Leitungsteam aus drei Leuten, die beiden Männer sind die Pastoren, die Frau ist Gemeindereferentin. Das ist nicht der einzige Widerspruch zwischen dem BFeG und der Selbstdarstellung des Berlinprojekts: Nicht Antigay? Laut BFeG-Leitung handelt es sich bei praktizierter Homosexualität um eine Sünde.

Und weiter: "Wir haben keine Mitgliedschaft", mailt Nowatzky in einer Stellungnahme. "Wir haben keinen wirklichen Überblick als Pastoren, wer kommt oder geht (und wollen das auch nicht)." Laut BFeG dagegen muss eine Gemeinde wenigstens etwa 25 Mitglieder haben, um aufgenommen zu werden. Und wer trotz wiederholter Ermahnung seit längerer Zeit nicht mehr am Gemeindeleben teilnimmt, verliert seine Mitgliedschaft. Kurz: Wer nicht spurt, fliegt.

Kampfbereite Söhne rüsten

Ähnlich widersprüchlich sieht es bei Every Nation Berlin aus: "Zeitgemäß, locker, ungezwungen, freundlich" wirbt man für sich. "Wir haben nichts zu verbergen", sagt Gareth Lowe. Er stellt sich auf der Website lässig dar, auf dem Foto offener Kragen und lange Haare, im Text bekennt er seine Vorliebe für ungesundes Essen. Er hat vier Kinder, seine Frau aber nur drei, er reist und liest gern. Aber sein "Traum ist es, Teil einer Gemeindegründungsbewegung zu sein, die eine Reformation in Deutschland und Europa von Neuem entfacht". Dafür will er "kampfbereite Söhne und Töchter rüsten".

Bei Every Nation handelt es sich um eine pfingstlich-charismatische Kirche. Diese Richtung hat sich weltweit zu einer "Trendreligion" entwickelt, erklärt Reinhard Hempelmann, Chef der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Beratungsstellen für Aussteiger wie etwa Artikel 4 und Acharisma wissen ein Lied davon zu singen.

In charismatischen Gottesdiensten geht es lebhaft zu, Leute rufen "Hallelujah" oder "reden in Zungen": Dann sind sie angeblich vom Geist ergriffen und sprechen etwas Unverständliches, was dann jemand anderes übersetzt. Wer solche Gaben hat, gilt als Prophet. Gott hat den Lowes nach deren Aussage auch durch Prophezeiungen ausrichten lassen, dass sie nach Berlin kommen sollen. Durch eigene Nachforschungen fanden sie heraus, dass der ursprünglich geplante Ort nahe der Humboldt-Uni für eine Kirche nicht ganz so geeignet wäre, zu wenig Studenten. Darum Friedrichshain.

Die Bibel gilt als unfehlbar

Das klingt lächerlich, tatsächlich steht dahinter ein sehr autoritärer Glaube: Der Every-Nation-Organisation gilt die Bibel als inspiriertes und unfehlbares Wort Gottes; der sündige Mensch muss für sein Heil durch den Heiligen Geist erneuert werden. Es gibt eine Wiederauferstehung, die Geretteten werden auferstehen und die Verlorenen der Verdammnis anheimfallen. Alle Christen sollen das Evangelium predigen, damit ihre Mitmenschen sich zu Jesus bekehren, und sie sollen ihnen dabei "helfen", Jesus nachzufolgen. Familien sollen wiederhergestellt werden und Studenten ihre Eltern ehren, und Sex vor der Ehe lehnt Lowe ab.

Wer Mitglied bei Every Nation Berlin werden will, muss vorher einen Kurs absolvieren und ein Interview mit dem Pastor überstehen: "Es ist wichtig für uns, dass ein Mitglied den richtigen Glauben in Jesus Christus hat", erläutert Lowe. Das gilt schon für Kinder: Ihre Eltern können Materialien bekommen, damit die Kids "diese entscheidenden Lektionen für die Zukunft" erlernen, verspricht die Website.

Auf den Webseiten der Kirchen fehlen nicht die Hinweise, wie man spenden kann und wie man sich engagiert. "Angebote" heißt das bei Every Nation. Dort wird auch betont, man soll jede Woche nicht nur zum Gottesdienst, sondern auch zu einem der kleineren "Treffpunkte" am Abend kommen. Berlin- und Kreuzbergprojekt veranstalten ähnliche Treffen, sie heißen "Sofagruppe". Wo könnten Christen einander besser ermahnen? Every Nation ist da ganz direkt: Wegbleiben geht nicht. "Um als Christ gesund zu wachsen, ist es sehr wichtig, an einem Gottesdienst teilzunehmen und Teil eines Treffpunkts zu sein."

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