Lernen im Knast: Die intensive Zellenbildung

Grundkenntnisse in Deutsch oder ein Master in Psychologie. Rund 100 Männer lernen und studieren in der Justizvollzugsanstalt Tegel.

Studieren oder Deutsch lernen - beides geht auch im Gefängnis. Bild: dpa

Das Zimmer wirkt wie eine Studentenbude: Lehrbücher auf dem Bett, ein Fernseher auf dem Tisch, GQ-Zeitschriften auf dem Stuhl. Allerdings ist es auffallend ordentlich: Die Bettwäsche hat keine einzige Falte. In den Schuhen stecken Holzspanner. Auf dem Wandregal steht eine Topfpflanze. Das Fenster bietet einen Ausblick ins Grüne. "Im Frühling, als die Blätter noch nicht so rauskamen, hat man schön den Tegeler See gesehen", sagt Thomas*. Nur die Eisengitter vorm Fenster irritieren. Denn der 32-Jährige ist zwar Student. Doch sein Zimmer ist keine normale Studentenbude, es ist eine acht Quadratmeter große Zelle in der JVA Tegel.

Vom Gang sind raue Männerstimmen und das Klappern von Stahltüren zu hören. Es ist kurz vor sieben Uhr morgens. Die Häftlinge gehen zur Arbeit. Thomas ist von der Arbeitspflicht befreit. Er ist einer der elf Studenten des größten deutschen Männerknastes. 100 weitere der insgesamt 1.543 Insassen besuchen die Knastschule. Einige holen den Haupt- oder Realschulabschluss nach oder machen Fernabitur. Am häufigsten nachgefragt sind allerdings die Grundbildungskurse. "Das durchschnittliche Bildungsniveau der Häftlinge ist niedrig", sagt der Leiter der Gefängnisschule, Jörg Bors.

Häftlingen müssen sich mit Lebenslauf und dem letzten Zeugnis bewerben. Im persönlichen Gespräch prüft der Schulleiter, ob der Gefangene wirklich an der Ausbildung interessiert ist. Meist scheitern die Bewerber jedoch nicht an der Motivation, sondern an einer Formalie: Die restliche Haftzeit reicht für den Kursabschluss nicht aus.

Während die anderen Häftlinge in der Tischlerei, Gärtnerei oder auf dem Bauhof schuften, tippt Thomas am Computer einen Text ab, den ihr per Hand in seiner Zelle vorgeschrieben hat. Im Studentenraum ist er alleine. Auf den Tischen stehen drei weitere Rechner. An der Wand hängt ein Auszug aus dem Strafvollzugsgesetz: Ziel des Vollzugs ist eine Zukunft ohne Straftaten. Thomas hat auf seinem Rechner einen getunnelten Internetzugang. Die Seiten der Fernuni Hagen kann er abrufen. Doch freie Recherche im Netz geht nicht. Bücher für seine Hausarbeit bestellt er über die Fernleihe. Das ist nicht einfach. Denn die Suche ist nur nach Titeln und nicht nach Themen möglich.

Eine Herausforderung sei auch der fehlende Gedankenaustausch. "Zusammenhänge muss man sich oft selber erklären", bedauert Thomas. Er studiert Psychologie, weil er sich gerne mit Menschen unterhält, aber auch für die Selbsanalyse. "Ich bin selber mit einer Situation konfrontiert, mit der ich nicht klar komme", sagt der Mann in Jeans, Sportjacke und mit Schal um den Hals.

Thomas wurde wegen eines Finanzbetrugs verurteilt. Seine Geschichte bezeichnet er als großen Unfall. Mitte der 1990er Jahre kam Thomas aus Niedersachsen nach Berlin. Nach wenigen Semestern schmiss er sein BWL-Studium und wurde Unternehmer. "Ich hatte schon einen gewissen Status erreicht, aber das Fundament war nicht richtig aufgestellt", erzählt er. "Dann nahm alles so einen Verlauf, es wurde am Ende zu einem Betrug und war nicht mehr zu revidieren." Als die Tat ans Licht kam, habe er für alles gerade gestanden, sagt Thomas. Er habe sich sogar selbst angezeigt.

"Braucht ein Mensch, der wegen Betrugs sitzt, wirklich ein Psychlogiestudium?", fragte sich der Schulleiter Jörg Bors, als er die Bewerbung von Thomas bekam. Er muss prüfen, ob die Ausbildung dem Ziel dient, dass der Gefangene nicht wieder straffällig wird. Bors wägte ab: "Er hat während der Ermittlungen nicht versucht, mit falschen Angaben etwas zu verschleiern. Er ist sehr korrekt. Und er schämt sich seinem Vater gegenüber: Allein das ist Motivation." Thomas bekam den Studienplatz.

In Thomas Familie war vorher noch niemand straffällig. Die Enttäuschung der Verwandten sei riesig gewesen, als sie von seiner Verurteilung erfuhren: 3 Jahre und 5 Monate Haft. Nun würde Thomas am liebsten psychologischer Berater werden. Er will Menschen helfen, die in eine schwierige Lage geraten sind, die am Burn-Out-Syndrom leiden oder jemanden verloren haben. Dafür lernt er vier bis sechs Stunden täglich. Ob das mit dem Traumberuf klappt, kann niemand sagen. Statistiken über den Jobeinstieg von Knast-Akademikern gebe es nicht, sagt Susanne Bossemeyer, Sprecherin der Fernuni Hagen. Allerdings seien einige gelungene Einzelfälle bekannt. "Ein Informatik-Absolvent hat zum Beispiel eine gute Stelle bei einer Forschungseinrichtung bekommen", sagt Bossemeyer.

Eine Ebene tiefer als Thomas sitzt Andrej* an einer Schulbank. Im Unterricht schreibt er, wie etwa 15 andere Schüler, ein Diktat. Der Weißrusse besucht den Grundbildungskurs, in dem Migranten und deutsche Analphabeten Deutsch, Mathe und zwei Fächer, die Naturlehre und Weltkunde heißen, lernen.

Deutsch für Erpresser

Auf Andrejs Tisch liegt der Krimi "Russlandreise, Mord inbegriffen". Das Buch lese sich sehr schwer, sagt der 39-Jährige. "Manchmal stoße ich auf ein langes Wort, das ich im Wörterbuch nicht finde. Keiner kann mir die Bedeutung erklären". Andrej will lieber einen Roman von Erich Maria Remarque ausleihen. Er hat das Buch vor kurzem auf Russisch gelesen. Doch wie die deutsche Version heißt, konnte er bis jetzt nicht herausfinden.

Andrej hat elf Jahre bekommen. Acht davon stehen ihm noch bevor. "Genug Zeit, um Deutsch zu lernen", dachte der Weißrusse. Er wolle mehr verstehen und sprechen können. Früher habe er es nicht nötig gehabt. Er sei öfters in Deutschland gewesen, doch nie für eine längere Zeit. Anfang der 1990er Jahre sei er aus dem in tiefster Krise steckenden Weißrussland nach Mitteleuropa gekommen. "Ich war viel unterwegs - in Prag, Warschau, Barcelona", erinnert sich Andrej. 2007 wurde er in Spanien festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert. Er wurde als Drahtzieher in einem erpresserischen Menschenraub, der 2006 in Berlin stattfand, verurteilt. Das Gericht sah "eine erdrückende Beweislage". Andrej hatte die Tat bestritten.

Für den Schul-Besuch bekommt Andrej wie die anderen Schüler auch Geld: im Schnitt 10 Euro am Tag. Ein Teil des Beitrags wird auf eine "Brücke" überwiesen - ein Sparkonto für die Entlassung. Mit dem Rest können die Gefangenen ein Mal im Monat einkaufen. Lebensmittel, Kosmetik und Zigaretten sind die beliebtesten Artikel.

"Einige Gefangene kommen zur Schule, nur weil sie es bezahlt kriegen", sagt Schulleiter Bors. Aber das sei kein Problem. Im Gegenteil. Das Geld soll die Schüler motivieren. "Mit der Zeit bauen sie ein gewisses Vertrauen zu den Lehrern auf", sagt Bors. Monatlich sprechen die Lehrer in einer Konferenz über jeden einzelnen Schüler. "Die besonders Lernfähigen werden mit einer Leistungszulage belohnt, Schwänzer kriegen Abzüge", sagt Bors.

Andrejs Gehalt wurde bis jetzt nicht gekürzt. "Ich gehe zur Schule wie auf eine Feier", sagt der Weißrusse. "Stell dir vor, ich wäre in einem Gefängnis in Weißrussland. Das wäre viel schlimmer", sagt Andrej. Er weißt, wovon er redet: Sein Bruder sitzt dort im Knast.

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