Selchow und der Flughafen BBI: Ein Dorf im Abflug

Selchow ist der Verliererort rund um den künftigen Flughafen BBI - lärmgeplagt und halb verlassen. Und doch sind die Bewohner trotzig: Kaum einer will freiwillig wegziehen.

Aufstieg erfährt Selchow keinen durch den Flugverkehr Bild: AP

Die Eier sind der Renner im "Hofladen". Die Größe L gibt es aber nur noch selten. "Tut mir leid, die sind schon aus", sagt Tina Salomon in dem geräumigen Container vor den Toren Selchows ihren Kunden immer öfter. "Die legen die Hühner nicht mehr viel, seit die Flugzeuge so über uns hinwegdonnern; mit der Zeit sind die Eier immer kleiner geworden." Die meist aus Berlin kommenden Kunden müssen deswegen Eier mittlerer Größe nehmen. Dafür kaufen sie ein paar mehr.

Bis zum Frühjahr letzten Jahres konnten die Kunden direkt auf dem Hof in der 200-Seelen-Gemeinde zwischen Mahlow und Schönefeld einkaufen. Das authentische Ambiente ist dahin: Der "Hofladen" ist in einen Container direkt an der neuen Umgehungsstraße umgezogen, weil Selchow durch einen kilometerlangen Bautunnel von Berlin abgeschnitten ist. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, beginnt die Baustelle des Großflughafens Berlin Brandenburg International (BBI).

Tina Salomon wärmt sich notdürftig an einer kleinen Standheizung. Behaglich ist es hier im Winter nicht; der Container ist mit der Heizung nicht warm zu kriegen, es zieht. Die Handvoll Kaffeetische sind verwaist. Die Bauarbeiter, sonst gern zu einem gemütlichen Plausch bereit, beeilen sich bei den niedrigen Temperaturen mit Mittagskaffee und Schnitten.

Auf dem Tresen stehen Wurst von den hofeigenen Schweinen und Rindern, belegte Brötchen, Obst und Gemüse, in den Regalen Honig und selbstgemachte Marmelade in Gläsern - ein echter Landladen. Für Flugzeugfreaks wäre es ein idealer Treffpunkt: Landende Maschinen sind aus nächster Nähe zu beobachten. Angsthasen aber halten sich besser fern. Naht ein Flugzeug, wird es laut. Ohrenbetäubend. Es fühlt sich an, als ob der Flieger auf dem Kopf landet.

"Verkehrs- und Fluglärm machen auf Dauer krank", erklärten Forscher vom Umweltbundesamt (UBA) unlängst in einer Studie. Der Veterinärmediziner Wolfgang Heuwieser stellt zwar infrage, ob die kleineren Eier im "Hofladen" tatsächlich auf den Fluglärm zurückzuführen sind. Die Informationen seien einfach zu unklar, sagt er - ausschließen will er es aber auch nicht. Jens Ortscheid, Lärmexperte am UBA, fügt hinzu: "Sollte BBI tatsächlich in der geplanten Größe kommen, wird das dauerhaft Auswirkungen auf die Menschen haben können." Der Flughafen soll in etwa so groß werden wie 2.000 Fußballplätze.

Selchow zählt wie andere Dörfer im Osten und Westen des Flugplatzes somit zu den Verlierern des Großprojekts BBI. Die Menschen kriegen das meiste des Lärms von startenden und landenden Flugzeugen ab, sie haben seit Jahren eine Baustelle vor der Nase, und manche verlieren ihr Zuhause: Zwei Gemeindeteile von Schönefeld, Kienberg und Diepensee, wurden komplett umgesiedelt; in Selchow wich ein Teil der Häuser, ihre Bewohner sind ins wenige Kilometer entfernte Großziethen gezogen oder in ein neu gebautes Mehrfamilienhaus an der zentralen Dorfstraße.

Auf der Gewinnerseite steht der Ort Schönefeld. Nördlich des Flughafens gelegen, bekommen die Bewohner kaum Lärm ab - dafür fließt jede Menge Geld in die Gemeindekassen. Bürgermeister Udo Haase ließ vor Jahren ein neues Rathaus bauen, damals noch buchstäblich auf der grünen Wiese, nun entsteht darum herum ein neuer Ortskern. Schwimm- und Feuerwehrhalle entstanden, Straßen wurden neu angelegt, Hotels kommen und Häuschen für die prognostizierte Bevölkerungsexplosion: Von derzeit 5.000 soll die Einwohnerzahl der gesamten Gemeinde in den nächsten Jahren auf 35.000 steigen.

BBI ist ein "Jobmotor", wie Lobbyisten und Politiker gern betonen - erst der Bau, dann die Serviceeinrichtungen am Flughafen, die neuen Gewerbeparks und die Hotellerie. 40.000 Arbeitsplätze sollen durch den Airport entstehen. Bürgermeister Haase freut sich. "Vor ein paar Jahren dachten viele noch, ich spinne, mit meinem neuen Rathaus auf der Wiese - jetzt werden sie eines Besseren belehrt." Haase steht der Gemeinde seit 2003 vor.

"Wir haben in Schönefeld die Steuern und Abgaben gesenkt", sagt Haase nicht ohne Stolz. "Viele merken die Segnungen des BBI jetzt schon." Straßen werden neu verlegt, Radwege gebaut, und Waßmannsdorf, nördlich von Selchow gelegen, soll einen eigenen S-Bahn-Halt bekommen. Die Internationale Luftfahrt-Ausstellung soll in der Gegend angesiedelt werden.

Man kann dem Bürgermeister nicht vorwerfen, dass er in seiner heilen neuen Welt die Nöte der Menschen in den Nachbardörfern vergisst. Er hat in Selchow das Neun-Familien-Haus errichten lassen, für Menschen, die der Umgehungsstraße weichen mussten, aber den Ort nicht verlassen wollten. Auch wenn Haase das Beharren der älteren Selchower nicht versteht. "Wenn sie sich das so wünschen, gilt: Des Menschen Willen ist sein Himmelreich", sagt er schulterzuckend.

Haase war es auch, der sich für den Container für den "Hofladen" eingesetzt hat, sonst hätte der Landwirt das Geschäft schließen müssen. Wegen des Hofs laufen Verhandlungen; drei Generationen der Familie Sauerwald wohnen dort, helfen auf dem Feld, in Stall und Gewächshäusern mit. Der Chef ist 30 Jahre alt und dort aufgewachsen, er kann sich nicht vorstellen zu gehen.

"Viele sagen, sie hören den Fluglärm gar nicht mehr", sagt Tina Salomon im "Hofladen". "Dabei hilft bei großen Maschinen auch kein Schallschutzfenster mehr." Dann aber schiebt sie gleich hinterher: In Blankenfelde sei es aber noch viel schlimmer. "Wenn meine Freundin dort auf der Terrasse sitzt, kann sie den Piloten Kaffee reichen." Salomon will auch nicht weg. Selchow ist doch ihr Dorf! Dann überlegt sie: Die Kinder, die durch den Dauerlärm womöglich Schaden nehmen. Die jahrelangen Bauarbeiten - der Tunnel, der Selchow abschneidet, ist für die sogenannte Dresdner Bahn gedacht, die direkt in den Terminal fahren soll. Das Planfeststellungsverfahren dafür aber verzögert sich immer wieder, weil Lichtenrader Bürger gegen das Vorhaben klagen. Umziehen wäre für Salomon der bequemere Weg.

Selchow ist bereits isoliert. Die Baustelle im Osten, der Graben im Norden - der BBI platzt in den Gemeindeverbund Schönefeld und reißt die Ortsteile auseinander. "Der Flughafen stellt eine räumliche Barriere zwischen den Ortsteilen der Gemeinde dar", sagt auch die Stadtforscherin Johanna Schlaack, die zum Thema Airport Cities promoviert und sich seit Jahren mit der Entwicklung des Flughafens und seines Umfeldes beschäftigt. "Die Einwohner orientieren sich in der Folge eher nach außen, zu anderen Orten hin."

In Selchow zieht es die meisten nicht mehr weg. Es ist ein alterndes Dorf; die Bewohner treffen sich regelmäßig zur Frauengruppe und in der "Männerwerkstatt" im Pfarrheim. Empfehlungen von außen stehen sie kritisch gegenüber- geprägt durch Nachkriegs- und DDR-Zeit. Stur sein ist ein Charakterzug.

"Natürlich will ich nicht weg. Bin hier groß geworden", sagt der 61-jährige Landwirt, der auf einem Gehöft im Ortszentrum lebt. Er kommt erst nach mehrmaligem Klingeln aus einer Seitentür, zwischen den Gebäuden um den gepflasterten Hof hallt das Bellen des Schäferhunds. Seinen Namen will der Mann nicht nennen, überhaupt ist Reden seine Sache nicht. Und wenn er weg muss, er, der seit 1947 in Selchow lebt? "Dann geh ich, was bleibt mir übrig." Er übt sich in Zweckoptimismus. "Immerhin sind ja schon Dörfer platt gemacht worden und Selchow war nicht dabei". Nur als dieser Zettel im Briefkasten lag, im Frühjahr vergangenen Jahres, da haben die Selchower richtig geschluckt: Die Bauarbeiten für den Tunnel beginnen in ein paar Tagen, die Hauptstraße endet am Ortsausgang, kein Durchkommen mehr auf lange Zeit, stand darauf.

Vielleicht wird Tina Salomon doch rüberziehen nach Großziethen, in eine der neuen Wohnungen. Rüber, zu den Gewinnern.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.