Bürgerprotest in Moabit: Geliebte Schutthalde

Der Bezirk Mitte will auf einem ehemaligen Güterbahnhofsgelände den Bau eines Großmarktes erlauben. Anwohner fürchten, dass ihr Kiez damit sozial noch weiter absinkt. Ihr Protest verzögert das Projekt - und könnte es so kippen

Es ist ein ungewöhnlicher Anblick. An einem heruntergekommenen Maschendrahtzaun auf der Nordseite der Moabiter Siemensstraße hängen Transparente. Sie sind leicht grau von den Autoabgasen und dem Staub der Durchgangsstraße, doch die dicken Buchstaben sind noch gut lesbar. "Stoppt den Großmarktwahn", steht da und: "Bäume statt Beton". In einem Kiez, der nicht gerade für Demonstrationen, Unterschriftensammlungen und Bürgerbegehren bekannt ist, regt sich Widerstand.

Der harte Kern des Widerstandes steht an einem Sommertag auf dem Gelände hinter dem Zaun mit den Transparenten. Da ist Christine Holmberg, die seit Juni in der Bürgerinitiative aktiv ist; Hartmut Eschenburg, der in der Gegend einige Häuser besitzt; Norbert Onken, der im Quartiersrat sitzt, und noch mehr Mitglieder, mit Ordnern ausgestattet. Sie alle haben sich durch ein Loch in dem Zaun auf das Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs gezwängt, sind über zertretenes Laub gelaufen und stehen nun vor einem abbruchreifen Gebäude.

Alte Kühlschränke liegen auf dem Boden zwischen verrotteten Paletten, Computergehäuse zwischen zerrissenen Couchgarnituren, blaue Müllsäcke zwischen bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Abfällen. Ja, hier ist ein Müllplatz für alle, denen der Sperrmüllplatz zu teuer ist, das geben die Anwohner zu. Doch hier ist auch eine Möglichkeit, mit dem Hund vor die Tür zu gehen, die backsteinernen Fabrikgebäude im Sonnenuntergang zu betrachten, eine Lücke im dichter werdenden Stadtraum.

Doch schon bald soll genau hier ein Großmarkt entstehen. 34.000 Quadratmeter Geländefläche, 18.000 Quadratmeter Gebäudefläche. Gegen den Willen vieler Anwohner.

Norbert Onken fängt an. Mit ausladenden Gesten erklärt er, warum ein Großmarkt auf dem Gelände unerwünscht ist. Da wären die mehr als 130 Pappeln, die dem Markt weichen müssten. Da wäre das erhöhte Verkehrsaufkommen von Lieferanten und Einkäufern, trotz geplanter Umgehungsstraße. Die Anlieferungszeiten mitten in der Nacht. Die Frischluftschneise, die das Gebäude abschneiden würde. Und natürlich die negativen Auswirkungen auf den angrenzenden Kiez, dem eine Sozialstudie im Auftrag des Bezirksamts Mitte jetzt schon eine "problematische Sozialstruktur" bescheinigt: Hohe Erwerbslosigkeit, hoher Anteil an Bewohnern ohne berufsbildenden Abschluss, niedriges Einkommen. Holmberg sagt: "Wenn der Hamberger hierher kommt, werden alle, die ein bisschen Geld haben, wegziehen."

Hamberger, das Unternehmen, das den Großmarkt bauen will, ist für die Mitstreiter in der Bürgerinitiative mittlerweile zu einem Synonym geworden. Nicht nur für eine Stadtentwicklungspolitik, deren Entscheidungen an den Bürgern vorbeilaufen, sondern auch zum Synonym dafür, ein vergessener Stadtteil zu sein. "Hinterhof der Macht", sagt eine Anwesende und schnaubt verächtlich. "Viele Bezirksverordnete, die über den Bau entscheiden, müssen erst auf dem Stadtplan schauen, wo das ist, wenn wir sie hierher einladen", sagt Onken. Und dann seien sie ganz erstaunt, wie groß der Markt werden soll und wie nah er an die Wohnhäuser reichen wird. Plötzlich würden sie die Planungen kritischer sehen.

Die Kritik ist mittlerweile in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) angekommen. Nachdem sich zwei Anträge, die sich kritisch mit dem Bau auseinandersetzten, im zuständigen Ausschuss zunächst gegenseitig blockierten, hat die BVV nun einen Antrag verabschiedet, der das Bezirksamt auffordert, Kompromisse mit dem Investor zu finden. Unter anderem sollen die Bäume erhalten bleiben oder Ersatz gepflanzt werden, und das Gebäude soll nicht so dicht an die Straße reichen wie derzeit geplant. Doch der Antrag bleibt vorsichtig: Eine Verringerung der Gebäudehöhe soll "überprüft" werden, ein Gestaltungswettbewerb sei "anzustreben". Und, etwas weniger vage: Das Gebäude soll in größerem Abstand zur Straße gebaut werden, um Platz für Bäume zu lassen.

"Wenn wir 10 oder 15 Meter Abstand halten müssen, wäre das ein K.-o.-Kriterium", sagt Oliver Titius, Geschäftsführer von Hamberger. Überhaupt hätte man niemals mit einer so langen Planungsphase gerechnet. Man hatte geglaubt, dass der Bebauungsplan nach einem Jahr fertig sei. Die Zeit werde nun zunehmend zum Kostenfaktor: "Wir schauen parallel auch nach anderen Standorten." Titius verweist auf Arbeitsplätze, die der Großmarkt schaffen würde, auf Schritte, die man bereits auf die Anwohner zugegangen sei in Sachen Fassadenbegrünung, neuen Hecken und Bäumen, geringerer Versiegelung des Bodens.

Die Arbeitsplätze sind es auch, mit denen Ephraim Gothe (SPD), Bezirksstadtrat von Mitte, die Anwohner überzeugen will. 300 sollen hier entstehen und gezielt Arbeitslose aus dem Kiez in Erwerbsarbeit bringen, betont er.

Und dann ist da die Sache mit dem Stadtpark. Einen Park wünschen sich die Anwohner schon lange. Und waren entsprechend hoffnungsvoll, als vor ein paar Jahren eine Bürgerbeteiligung für einen "Moabiter Stadtgarten" begann. In einer Broschüre, Anfang 2009 herausgegeben vom Bezirksamt Mitte, ist die Rede von einem Park, der auf einem Teil des ehemaligen Bahnhofsgeländes entstehen soll. "Hamberger ist in dem ganzen Verfahren nie erwähnt worden", sagt Onken. Das bestreitet Gothe: Die Planung, auf dem Ex-Bahnhofsgelände Gewerbe anzusiedeln, sei schon viele Jahre alt.

Er bestätigt, dass es sich um ein Kopplungsgeschäft handelt: Das Land hat die künftigen Parkflächen günstig erworben, im Gegenzug soll der Großmarkt kommen. Schon im September ist der erste Spatenstich für den Park geplant. Damit würden auch Fakten geschaffen. Denn noch ist der Bau des Großmarktes nicht genehmigt. Aber schon jetzt geht Gothe davon aus, dass die Vereinbarungen nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Die Anwohner sind Realisten. Sie sind nicht gegen Gewerbe. Aber wenn schon Gewerbe, dann soll es Kleingewerbe aus dem Kiez sein, darüber sind sich alle einig. Kleine Gebäude, die optisch und real Luft durchlassen, statt eines großen Blocks, der bis an den vierten Stock heranreicht. Zumindest eine Verkleinerung des Gebäudes. Das alles steht nicht in dem Antrag der BVV. Die Anwohner sind daher skeptisch, ob am Ende nicht einfach die Fassadenbegrünung als Feigenblatt verkauft wird.

"Bislang waren wir immer eine nette BI", sagt Onken. Man habe Gespräche geführt, Transparente aufgehängt, Unterschriften gesammelt und niemandem weh getan. Sollte die BVV entscheiden, dass der Markt gebaut werden darf und die Bäume fallen, könnte sich das ändern. Einige Eigentümer haben angekündigt, dagegen zu klagen. "Die Empörung wächst", sagt Onken.

Und bei Hamberger wächst die Ernüchterung. Wenn der Widerstand bleibe, so Titius, werde es immer schwieriger, die Pläne aufrechtzuerhalten.

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