OBDACHLOSE: Hilfe in der kalten Nacht

Seit Wochen Minusgrade - im Freien zu schlafen oder betrunken wegzunicken kann da tödlich enden. Ein Netzwerk versucht, das zu verhindern. Ein Beispiel aus Neukölln.

Hier braucht es mehr als wärmende Worte Bild: dpa

Neukölln, gegen 23 Uhr, an einer Bushaltestelle: Auf den Sitzen neben dem Schnee liegt ein dunkelgraues Etwas, die Beine schweben unbeholfen über dem Boden, der Kopf hängt neben den Sitzen. Der Herr mit Vollbart ist oft in dieser Gegend, schlurft über den Kottbusser Damm, sitzt auf einer Parkbank oder im U-Bahnhof. Aus selbigem wurde er kurz vorher von Polizisten verbannt. Wahrscheinlich hatte sich jemand über ihn beschwert.

"Wenn Obdachlose tagsüber bei derartigen Temperaturen nicht stark alkoholisiert sind, randalieren oder Alkohol konsumieren, dulden wir sie in den U-Bahnhöfen", sagt Klaus Wazlak, Sprecher der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), wenn man ihn fragt nach dem Umgang der BVG mit Obdachlosen bei Minustemperaturen. Er ergänzt: "Unser oberstes Gebot ist, dass Fahrgäste nicht belästigt werden." Belästigend sei aber manchmal auch der Geruch. Doch drei U-Bahnhöfe bleiben nachts extra für die Obdachlosen offen, sagt er: Schillingstraße (U5), Südstern (U7) und Hansaplatz (U9). Aber es gebe auch Obdachlose, die sich nicht helfen lassen wollen.

Der Bärtige vom Kottbusser Damm ist definitiv alkoholisiert. Das stellt ein Mitarbeiter aus dem Rettungswagen einer Hilfsorganisation fest. Der Wagen kam über den Notruf 112, als jemand den Bärtigen an der Haltestelle liegen sah. Der Obdachlose murmelt den Namen eines Krankenhauses, der Nothelfer sieht sich seinen Pass an und weiß, dass die Person Hausverbot in dem Krankenhaus hat. Dann stellt er fest, dass der Obdachlose nicht verletzt oder unterkühlt ist, erklärt sich für nicht zuständig - und ruft die Polizei.

"Befinden sich die Personen in einem erkennbar hilflosen Zustand, werden sie entweder von der Berliner Feuerwehr in ein Krankenhaus oder von der Polizei in ein Gewahrsam gebracht." Dies ist die schriftliche Antwort der Berliner Polizei auf die Frage, wie Polizisten bei Minustemperaturen mit Obdachlosen umgehen.

Auch die zwei Polizisten, die zur Bushaltestelle in Neukölln kommen, prüfen den Pass des Bärtigen. Er hat keine Meldeadresse. Deshalb müssten sie ihn für die Nacht in Gewahrsam nehmen, was Kosten verursache, so einer der Polizisten. Häuften sich solche Schulden, könne er irgendwann ins Gefängnis kommen. Aber der Bärtige will eh nicht mit den beiden mit. Doch auf der Sitzbank im Freien dürfen die Beamten ihn nicht sitzen lassen, wegen der frostigen Temperaturen. Die einzige Alternative: Der Obdachlose zeigt, dass er imstande ist, eigenständig zu laufen, erklärt der Polizist.

"Ich habe erlebt, dass Polizisten einen Obdachlosen zu einer unserer Notübernachtungsstellen brachten", sagt Robert Veltmann. Der Sozialarbeiter koordiniert die Berliner Kältehilfe, einen Zusammenschluss von mehr als 60 Organisationen: Kirchengemeinden und Sozialdienste, Ehrenamtliche und Profis. Gemeinsam bilden sie ein Netz von Anlaufstellen. Bei Veltmann laufen die Informationsfäden zusammen; er weiß, welche Stelle am Montagabend noch einen Obdachlosen mit Haustier aufnimmt, welches Tagescafé am Dienstag geschlossen und welches am Mittwoch geöffnet hat. Vernetzung par excellence. Dass die Probleme tiefer liegen, ist ihm bewusst. "Wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft. Sie produziert Sieger und Verlierer", sagt er.

Aber das ändere nichts daran, dass man alles tun müsse, um diese Verlierer nicht auch noch erfrieren zu lassen. Dafür sind zwei Kältebusse in Berlin unterwegs, einer von der Stadtmission, einer vom Roten Kreuz. Sie sammeln Obdachlose in der Kälte ein und fahren sie zu Notübernachtungsstellen. Sieht ein Bürger einen Obdachlosen, kann er den Kältebus anrufen.

An diesem Abend an der Bushaltestelle meldet sich beim Kältebus des Roten Kreuzes nur die Mailbox. Das andere Fahrzeug ist in einer ganz anderen Ecke unterwegs und würde mindestens eine Stunde brauchen. Deshalb der Krankenwagen, deshalb die Polizei. Wenig später sitzt der bärtige Obdachlose aber wieder oder immer noch an der Bushaltestelle. Doch diesmal ruft jemand vom Roten Kreuz zurück. Der junge Mann entschuldigt sich, dass er nicht ans Telefon gehen konnte. Er habe gerade einen anderen Obdachlosen in eine Übernachtungsstelle gebracht. Nun sind Bus und Mitarbeiter in der Nähe, kommen und nehmen den Bärtigen vom Kottbusser Damm mit.

"Die Kältehilfe in Berlin ist im Großen und Ganzen sehr gut aufgestellt", sagt Veltmann. Ob BVG-Angestellte, Polizisten, private Wachdienstler - theoretisch haben sie Zugang zu den Daten der Kältehilfe durch Kontakt zu Leitstellen. Dass jemand im einzelnen Fall nicht die passende Information parat hat, das sollte nicht sein, passiere aber manchmal, ergänzt er.

Zwei Abende später sitzt der Bärtige vom Kottbusser Damm im U-Bahnhof. "Acht Tage jeden Tag besoffen", sagt er mit Akzent. "Total Katastrophe bei mir. Alkohol nicht gut." Als er pinkeln muss, steht er schwankend auf und pinkelt an einen Pfeiler. Den Hinweis auf einen U-Bahnhof in der Nähe, der nachts offen bleibt, versteht er nicht. Fragt man ihn, ob man helfen kann, sagt er: "Kein Feuerwehr, kein Polizei, nur Rotkreuz." Als die beiden Männer vom Kältebus des Roten Kreuzes kommen, bedanken sie sich für den Anruf, haken den Bärtigen unter und gehen langsam mit ihm die Treppe hoch.

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