650 Jahre Neukölln: Musike und Blutwurst

Geflohene Böhmen, saufende Arbeiter und eine berühmte Blutwurst gehören zur Geschichte Neuköllns. Die begann vor 650 Jahren in Rixdorf, wo sich ein Schwabe bestens auskennt.

Mit roten Gerbera macht Reinhold Steinle auf die Schönheiten Neuköllns aufmerksam Bild: AP

Die 48 Stunden: Höhepunkt des Jubiläums ist das Kunst- und Kulturfestival "48 Stunden Neukölln" von Freitag bis Sonntag. Shuttleautos, Rikschas und ein Boot kutschieren die Besucher zwischen Kulturevents und Kunstaktionen hin und her. Das komplette Programm steht unter www.48-stunden-neukoelln.de/2010/

Der Comic: Zum Jubiläum bietet der Comic "Weltreiche erblühten und fielen" einen Grundkurs in Neukölln-Geschichte. Es gibt ihn für knapp 10 Euro im Buchhandel und beim Kulturamt Neukölln.

Das Denkmal: Im September wird auf dem Platz der Stadt Hof ein Denkmal der Migration enthüllt. Zudem gibt es Führungen zu unterschiedlichen geschichtlichen Aspekten, etwa zum Widerstand der Neuköllner gegen die Nazis.

Die Ausstellung: Bis zum 30. Oktober ist in der Galerie im Saalbau, Karl-Marx-Straße 141, die Ausstellung "Weltenbürger" zu sehen. Dafür wurden eingewanderte Neuköllner über ihre Lebensgeschichte befragt.

Der Stadtführer: Infos zu Reinhold Steinles Kiezspaziergängen unter www.reinhold-steinle.de

Weitere Infos: Alle Termine zum 650-Jahr-Jubiläum stehen unter www.kultur-neukoelln.de

Der Mann mit der roten Gerbera fällt auf. Die Blume ist zu groß, um echt zu sein, sein hellbrauner Anzug ist viel zu warm für den schwülen Nachmittag auf dem Richardplatz. Den Mann mit der Blume sieht man in letzter Zeit öfter im Nord-Neuköllner Richardkiez, heute fehlt allerdings die Traube Menschen hinter ihm. Gewöhnlich macht er sein Gefolge auf die hübschen alten Laternen aufmerksam, die noch mit Gas betrieben werden. Er führt es über das historische Kopfsteinpflaster zu den eingeschossigen Gehöften mit Giebeldächern in der Nähe des Platzes und zur ehemaligen Dorfschmiede, wo er in breitem Schwäbisch erklärt, dass das Handwerk hier auch heute noch lebe. Hier am Richardplatz, wo die Geschichte Neuköllns vor 650 Jahren ihren Anfang nahm.

Reinhold Steinle kämpft für Neukölln. Aufpolieren will er dessen Image als Problembezirk. Dafür führt der Beamte aus Charlottenburg seit zwei Jahren in seiner Freizeit unermüdlich Touristen und Berliner durch Neukölln. "Einer muss es ja tun", erklärt der 51-Jährige und nestelt an seinem orangefarbenen Schlips. Bewaffnet mit einer Aktentasche voller Informationen und der roten Gerbera, damit die Unkundigen ihren Stadtführer nicht verlieren, zeigt er die aufstrebenden Kieze des Bezirks. Eines seiner Reviere ist die Gegend rund um den Richardplatz, das alte Rixdorf, dessen dörfliche Idylle kaum jemand vermutet zwischen der wuseligen Karl-Marx-Straße und der stark befahrenen Sonnenallee.

In Wirklichkeit ist der Schwabe weder Beamter noch heißt er Reinhold Steinle. Steinle ist eine Kunstfigur, die mit dem Klischee vom spießigen Schwaben spielt und den Touristen mit gespielter Betulichkeit unterhaltsam Stadtgeschichte erzählen will. Über den Mann hinter Steinle, der mit den Führungen sein Geld verdient, wird nichts verraten. Nur der Dialekt sei echt, gibt das Alter Ego preis.

Umso mehr weiß er vom bäuerlichen Urspung seines Rettungsobjekts zu berichten. Am 26. Juni 1360 wurde Richardsdorp, ein 100-Seelen-Dorf vor den Toren der beiden Städte Berlin und Cölln, erstmals urkundlich erwähnt. Im 30-jährigen Krieg fast vernichtet, gewann der inzwischen Rixdorf genannte Ort im 18. Jahrhundert ökonomische Bedeutung, als Friedrich Wilhelm I. Häuser bauen ließ, einigen hundert böhmischen Glaubensflüchtlingen Unterschlupf gewährte und Land zur Bewirtschaftung schenkte. Aus einem Dorf wurden zwei: Deutsch-Rixdorf und nördlich davon Böhmisch-Rixdorf mit je etwa 300 Einwohnern.

Steinle schließt ein schwarzes, zwischen zwei Wohnhäusern verstecktes Tor auf. "Böhmischer Gottesacker" steht in goldenen Lettern über dem Torborgen. Es ist der zweitälteste Berliner Friedhof, der noch genutzt wird. 1751 bekamen die eingewanderten Böhmen, die sich wegen Glaubensfragen in drei Gemeinden aufgespalten hatten, ihren eigenen Friedhof.

Steinle erklärt die strenge Liegeordnung der Herrnhuter Brüdergemeine, einer der drei böhmischen Gemeinden, auf deren Gräberfeld Frauen und Männer getrennt ihre letzte Ruhe finden. Bis heute gibt es für die Mitglieder der Freikirche weder gemeinsame Ruhestätten für Familien oder Paare noch Grabschmuck oder Kreuze. An der Friedhofsmauer lehnen die alten Grabsteine mit tschechischen Inschriften. "1940 ist die letzte Frau gestorben, die noch Tschechisch sprach", erzählt der Stadtführer.

"Hallo, Gönül", grüßt er später über die Straße. Die Künstlerin und Schriftstellerin Gönül Hürriyet Aydin hat vor drei Jahren in der Nähe des Friedhofs ihre kleine Galerie für Ausstellungen, Lesungen und Konzerte erröffnet. Die Böhmen sind nicht die einzigen Einwanderer geblieben, Menschen aus mehr als hundert Nationen und deren Nachkommen leben im Kiez. Und wie derzeit typisch für Nordneukölln ziehen verstärkt junge Leute und Künstler in die Gegend.

"Auch hier hat man Angst vor Gentrifizierung, ich bin nicht von allen gern gesehen", sagt Steinle. Anzeichen wie neu eröffnete Cafés und Galerien zeigt er bei seinen Führungen ebenso wie die versprengten historischen Hinterlassenschaften der Gegend. Dazu gehört das Denkmalensemble der kleinen bäuerlichen Häuser mit den großen Toreinfahren und Höfen ebenso wie das alte Handwerk und Gewerbe - etwa die alteingesessenen Fleischerei. Der von Neonlicht durchflutete Laden lässt nicht vermuten, dass von hier wöchentlich eine Tonne Blutwurst in die ganze Republik verschickt wird. Von einem französischen Blutwurstorden, den Gourmets gegründet haben, wurde der Chef gar zum Ritter geschlagen. Die Wurst werde nach einem hundert Jahre alten Familienrezept hergestellt, erzählt der Metzgermeister und verschenkt einen Topf des hauseigenen Senfs.

Alte, majestätisch anmutende Kutschen können Filmemacher und Hochzeitspaare ein Stück weiter am Richardplatz leihen. Der Familienbetrieb war 1894 gegründet worden, vor allem um Rixdorfer Ärzte zu ihren Kunden zu fahren. Die fünfte Generation der Kutschunternehmer verdient ihr Geld inzwischen mit einem Bestattungsservice.

Zu Steinles Stationen gehören auch Berlins einziger Grammofonladen oder die Galerie Posin, in der drei russische Maler legale Auftragsfälschungen durchführen. "Sie alle haben lange durchgehalten, als viel Leerstand war und keiner in die Ecke wollte", sagt der Stadtführer. Ein bis zwei Touren macht Steinle pro Woche. "Die Tourismusbranche hat immer noch wenig Interesse an Neukölln, das schlechte Image ist einbetoniert, es braucht ewig, das loszuwerden."

Diese Ewigkeit währt schon länger als hundert Jahre. 1894 haben sich das böhmische und deutsche Dorf vereint, die industrielle Revolution ließ die Bevölkerungszahlen explodieren, und Rixdorf wurde Anfang des letzten Jahrhunderts zu einer großen südlichen Vorstadt Berlins mit knapp 100.000 Einwohnern. Die Arbeiterhochburg war berühmt für ihre Varietés, Spielkasinos und Tanzlokale zwischen Hasenheide und Richardplatz. Die Saufgelage der Proletarier endeten nicht selten in Schlägereien. Der Gassenhauer "In Rixdorf is Musike" machte die Amüsiermeile bis ins Ausland bekannt. Um den Ruf zu verbessern, beschlossen die Stadtoberen 1912 die Umbenennung in Neukölln. Acht Jahre später wurde es von Berlin eingemeindet.

Mohn im Comenius-Garten

Wo früher die Richardsburg, die berüchtigste Mietskaserne, stand, leuchtet heute dunkelrot der Mohn zwischen hüfthohen Gräsern und Kornblumen. 1995 wurde hier der öffentlich zugängliche Comeniusgarten angelegt - zu Ehren des wohl bedeutendsten Bruders der Herrnhuter, des Universalgelehrten Johann Amos Comenius.

Wer mehr über die Geschichte der Gemeinde erfahren will, geht zum alten Schulhaus. Und wenn man Glück hat, ist das kleine Böhmische Museum geöffnet und Beate Motel führt durch die Räume. Die Rentnerin gehört zur zehnten Generation der eingewanderten Böhmen und lebt in einem der alten Giebeldachhäuser ihrer Vorfahren. Sie zeigt die Trachten aus schwarzen Samtkleidern mit weißer Schulterstola, die die Frauen der Herrnhuter Gemeinde bis in die 50er Jahre getragen haben. Die Rentnerin ist Steinles verlässlichste Quelle. "Dann fragen wir mal Frau Motel", lautet seine Standardantwort bei Detailfragen. In seinem Dialekt wird die Rixdorf-Kennerin weich zu "Frau Model". Schwäbisch eben.

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