Montagsinterview mit Holocaust-Überlebender: "Gejubelt haben sie alle"

Margot Friedländer überlebte nur mit Glück die Nazizeit. Dann wanderte sie in die USA aus - und kam mehr als 60 Jahre später kam zurück, um der Jugend von ihrem Leben zu erzählen.

Die jüdische Schriftstellerin Margot Friedländer überlebte im Untergrund Bild: Gordon Welters

taz: Frau Friedlander - oder muss ich Sie jetzt nach Ihrer Einbürgerung wieder mit Ihrem alten Namen "Friedländer" anreden?

Margot Friedländer: Ja, jetzt, nach etwa 60 Jahren, ist es wieder mit Umlaut: Friedländer. Meine deutsche Staatsbürgerschaft habe ich nun mit Umlaut bekommen, also Friedländer.

Okay. Also, Frau Friedländer, was halten Sie von guten alten deutschen Sprichwörtern?

Welches alte deutsche Sprichwort?

"Einen alten Baum verpflanzt man nicht."

Davon halte ich sehr viel.

Das Schicksal von Margot Friedländer entscheidet sich am 20. Januar 1943. Die 21-Jährige, die wie fast alle in Berlin verbliebenen Juden Zwangsarbeit leisten muss, kommt heim in die Skalitzer Straße 32. Dort lebt sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder. Doch die Gestapo hat ihn abgeholt. Ihre Mutter folgt ihm und hinterlässt Margot nur eine Nachricht, die ihr Nachbarn erzählen: "Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen." Sie sieht beide nie wieder.

Margot Friedländer taucht unter, wechselt immer wieder ihre Verstecke, ist abhängig von der Hilfe anderer. Im April 1944 wird sie gefasst und nach Theresienstadt deportiert. Doch sie überlebt das KZ. Mit ihrem Mann Adolf, den sie dort kennengelernt hat, emigriert sie 1946 nach New York.

Nach dem Tod ihres Mannes kehrt Margot Friedländer 2004 erstmals nach Berlin zurück. Ein Film wird über sie gedreht, sie schreibt ihre Autobiografie. Vor Kurzem dann der radikale Schritt: Sie zieht wieder zurück nach Berlin. Anfang April nimmt sie die deutsche Staatsbürgerschaft wieder an - und ihren alten Namen: Friedländer statt Friedlander.

Sie selber haben sich nicht daran gehalten. Sie sind in Berlin geboren, haben als Jüdin den Holocaust zuerst versteckt in Berlin, dann in Theresienstadt überlebt und sind vor etwa 60 Jahren, nach New York emigriert. Nun leben Sie wieder in Berlin.

Der Baum ist ja hier gepflanzt worden. Ich bin ja Deutsche, bin hier in Berlin geboren und aufgewachsen. Die Wurzeln waren am Vertrocknen. Man hat versucht, sie wieder zu gießen, sodass daraus wieder ein blühender Baum geworden ist.

Dennoch: Fühlen Sie sich nicht gerade hier, in diesem Seniorenstift am Kudamm, etwas seltsam? Es sind so viele alte Deutsche um Sie herum. Denken Sie da nicht manchmal: Mensch, was hat die oder der damals gemacht?

Von den älteren Leuten, also meinem Jahrgang 1921, gibt es nicht mehr so viele. Und die, die es hier gibt, die waren damals wie ich etwa 20 oder 22 Jahre alt. Hier in der Seniorenresidenz sind aber vor allem viele, die jünger sind als ich. Außerdem bin ich nicht hierher zu diesen Leuten gekommen - ich bin nach Berlin gekommen zu meinen Freunden, die alle jünger sind. Ich bin sehr vorsichtig, wenn ich mich mit den alten Leuten hier unterhalte.

Wie äußert sich das?

Ja, die Gedanken und Gefühle sind dann definitiv, was haben die gemacht damals? Gejubelt haben sie alle.

Wie gehen Sie mit den Gefühlen um? Sprechen Sie das an?

Ich versuche so unpolitisch wie möglich mit diesen Personen zu sprechen. Ich will mich nicht in irgendwelche Gespräche mit ihnen einlassen, weil ich hierher gekommen bin, um den jungen Menschen zu sagen, was war - und dass sie jetzt die Zeitzeugen sind. Denn wir sterben aus. Ich sage den jungen Leuten, dass ich ihnen meine Hand reiche, aber dass ich von ihnen auch etwas verlange: Sie sollen dafür sorgen, dass das nie wieder passiert. Das kann ich nur mit den jungen Menschen machen. Das ist so.

Warum?

Weil das heute mindestens die dritte Generation ist. Die Menschen meiner Generation, die in dieser Seniorenresidenz wohnen, sind für mich irgendwie nicht existierend. Bei denen habe ich keine Hoffnung, auch wenn sie mir oft sagen, sie hätten das und das und das für Juden oder gegen die Nazis gemacht. Das ist ja nur, um sich freizusprechen. Dass sie plötzlich alle nicht dafür waren, ist etwas, womit ich immer gerechnet habe, dass sie versuchen, dies unter den Teppich zu kehren.

Gibt es denn hier vielleicht auch Situationen, wo jemand heute etwa sagt, ich fand die Nazis damals gut - und ich bereue das?

Das gibt es, und das finde ich viel besser. Ich spreche ja über meine Geschichte nicht nur in Schulen, sondern auch in Bibliotheken und Buchläden. Da ist es mir oft vorgekommen, dass die Leute gesagt haben, sie gehörten dazu - sie schämen sich. Ich weiß es ja, dass es alle waren. Ob sie nun Mitläufer waren oder sehr aktiv, das will ich mal dahingestellt sein lassen. Ich bin jedoch noch nie jemandem begegnet, der im Lager Aufseher war.

Was würden Sie wohl tun?

Das kann ich mir nicht vorstellen.

Andererseits zeigten auch manche Mitglieder der jüdischen Gemeinde wenig Verständnis für Ihre Rückkehr nach Deutschland, um es vorsichtig zu sagen. Verstehen Sie das denn?

Nun, ich bin zumindest noch niemandem von der jüdischen Gemeinde begegnet, der sagte, er könne es nicht verstehen - anders aber verhält es sich mit Israelis: Die können mich nicht verstehen und sagen das auch. Die meisten Juden hier kommen aus Migrantenfamilien, etwa aus Russland …

und viele der heute alteingesessenen jüdischen Familien stammten ja auch ursprünglich von osteuropäischen Juden ab, die nach dem Krieg in Deutschland hängen geblieben sind?

Ja, und die kann ich dann natürlich auch fragen: Warum sind Sie hier? Warum dann nicht ich, nicht wahr? Sie hätten ja auch nach Israel oder Amerika gehen können. Ich bin hier nicht nur zum Vergnügen, sondern um das, was ich anscheinend ganz gut kann, zu tun. Ich bin hier im Andenken nicht nur an meine Eltern und meinen Bruder, sondern auch an die sechs Millionen Menschen, die ermordet wurden. Wenn wir das nicht tun, die paar, die noch da sind und die es können - wer soll es für uns tun? Ich habe ein Mission.

Dass Sie zurückgekehrt sind, das tun Sie im Grunde für andere? Für die Toten?

Ja. Als ich anfing, mit jungen Menschen zu sprechen, war noch keine Rede davon, dass ich hierher komme. Das war ein Entschluss, der auch darauf basierte, dass ich recht einsam in Amerika, in New York war, da ich keine Verwandten habe außer etwas Verwandtschaft vonseiten meines Mannes, die aber ihr eigenes Leben leben. Sie sind in Amerika geboren, von Emigranteneltern zwar. Aber auch diese Eltern sind als junge Menschen in die USA gekommen und sind heute doch recht amerikanisch. Für mich war das etwas anders. Ich bin zu einer anderen Zeit nach Amerika gekommen, nämlich nach dem Krieg, 1946. Ich kam, als man uns reinließ, nachdem wir es nicht mehr brauchten. Für die, die früher emigrierten, hat Amerika ein anderes Gefühl. Ich sagte mir: Als ich Amerika gebraucht habe, hat es uns nicht geholfen - jetzt brauche ich es eigentlich nicht mehr.

In Ihrem Buch "Versuch dein Leben zu machen" erzählen Sie von Ihrem Schicksal mit vielen faszinierenden Geschichten. Eine davon ist die über Ihre Nase. Sie haben sie während Ihrer Zeit im Untergrund operieren lassen, damit Ihre Nase nicht mehr so "jüdisch", wie Sie schreiben, aussieht. Haben Sie sich mit dieser anderen Form Ihrer Nase angefreundet? Ist sie nicht, wenn Sie in den Spiegel schauen, eine tägliche Erinnerung an diese Zeit?

Wissen Sie, ich lebe mit dieser Nase nun schon so viele Jahre - meine frühere war gar nicht so anders. Es war mehr so ein Gefühl. Man hat mir erst in den letzten Jahren gesagt: Weißt du, es war nicht deine Nase, die dich auffällig machte im Untergrund. Aber vielleicht waren es deine Augen. Damals hat man nach jeder Möglichkeit geschaut, um zu überleben. Der Mann, mit dessen Frau und Tochter ich im Untergrund einige Zeit gelebt habe, der hat das mit der Nase eben arrangiert. Den Namen des Arztes, der die Operation gemacht hat, kenne ich immer noch nicht. Aber ich lebe eben mit meinem Gesicht. (lacht)

Es sieht auch sehr gut aus.

Ich weiß nicht.

Ihr Mann ist bereits 1997 in New York gestorben. Sind Sie eigentlich traurig, dass Sie ihn nicht überzeugen konnten, gemeinsam nach Deutschland zurückzukehren?

Ich denke oft darüber nach. Manchmal bereue ich es, dass ich ihn nicht dazu überredet habe. Ich könnte mir eventuell vorstellen, dass seine Aversion - nein, seine tiefe …

Abneigung?

… ja, seine tiefe Abneigung gegenüber Deutschland sich vielleicht etwas geändert hätte, wenn er gesehen hätte, wie Deutschland seine Geschichte behandelt und was Deutschland da tut. Ich finde ja, dass Deutschland das einzige Land ist, und natürlich, es war ja auch hier, hier ist ja alles geschehen - aber es ist das einzige Land, das sich damit auseinandersetzt. Doch hätten viele andere Länder, die ja auch vieles Schlechte getan haben, sich ebenso damit auseinandersetzen müssen. Ich habe beispielsweise meinem Mann gesagt: Du gehst immer in die Schweiz. Die Schweiz aber hat sich nicht so gut benommen in dieser Zeit. Sie haben Juden, die dorthin fliehen wollten, zurückgeschickt, und zwar ganz einfach. Aber das war trotzdem nicht Deutschland für ihn.

Haben Sie manchmal das Gefühl, 60 Jahre im falschen Land gelebt zu haben, wenn Sie jetzt, in der Spätphase Ihres Lebens, nach Deutschland zurückkehren? 60 Jahre - eine sehr lange Zeit: zwei Generationen.

Nein, es war richtig, damals wegzugehen. Mit jedem, mit dem ich damals gesprochen hätte, hätte ich das Gefühl gehabt, die haben meine Mutter und meinen Bruder umgebracht, der hat uns angespuckt, der hat uns verraten, der hat uns nichts gegeben - und so weiter. Damals war es unmöglich, hierzubleiben. Wir hatten gute Möglichkeiten nach dem Krieg in Deutschland. Vieles ist meinem Mann nach dem Krieg angeboten worden. Mir ist der Gedanke an eine Rückkehr erst durch das Verstreichen einer gewissen Zeit und das Kennenlernen von manchen Deutschen möglich geworden.

Das dauert seine Zeit.

Ja, und dazu kommt, dass ich ja ein anderes Gefühl für Deutsche habe als viele andere, weil mir ja Deutsche geholfen haben im Untergrund, versucht haben, mich zu retten, zu verstecken, damit ich überlebe. Dass ich am Ende doch gefasst wurde und nach Theresienstadt kam, ist eine andere Sache. Also kann ich eigentlich nur sagen: Ich habe die guten Deutschen kennengelernt.

Als ihr Mann 1997 starb, da war Ihr Entschluss, noch Deutschland zurückzukehren noch weit weg, oder?

Der Entschluss, überhaupt nach Berlin zu gehen, kam durch den Filmemacher Thomas Halaczinsky, der einen Film über mich gemacht hat. Er sagte, wir müssen aber einen Teil des Films in Berlin drehen. Aber es gab bei mir da auch keinen direkten kolossalen Widerstand.

Glauben Sie, Ihr Mann würde verstehen, dass Sie Ihren Lebensmittelpunkt so radikal nach Berlin verlagert haben?

Ich weiß es nicht. Es ist schwer zu sagen. Ich habe mich oft gefragt: Tue ich das Richtige? Aber ich muss ja tun, was ich denke, was richtig ist für mich. Jetzt muss ich mein eigenes Leben leben. Die Entscheidungen muss ich treffen.

Rührend in Ihrem Buch ist auch Ihr Eingeständnis, dass Sie die Gefühle zu Ihrem späteren Mann erst haben wachsen lassen müssen, weil Ihre Gefühle in der Zeit der Verfolgung fast abgestorben waren - und trotzdem ist es eine große Liebe geworden.

Eine wunderbare Ehe, Liebe ist ja vergänglich, ein Verständnis. Es war sehr gut, es war sehr schön.

Was sagen Ihre Freunde in den USA zu Ihrer Rückkehr?

Merkwürdigerweise verstehen es einige.

Wie erklären Sie sich das?

Meine Freunde, das ist eine merkwürdige Gruppe. Eine Freundin ist ein Kind jüdischer Eltern, die von Deutschland nach Israel emigriert sind. Als sie elf Jahre alt war, kehrte die Familie nach Deutschland zurück, wo sie aufwuchs, ehe sie etwa mit 20 dann nach New York zog. Sie könnte sich sehr gut vorstellen, in Deutschland zu leben. Wer es nicht verstehen kann, sind häufig die Kinder von Emigranten, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA kamen.

Ihre Freunde haben also oft auch eine Verbindung zu Deutschland. Haben Sie vielleicht auch deshalb mehr Verständnis für Ihre Rückkehr nach Berlin?

Ja. Und die anderen sagen nichts dazu.

Wenn Sie sich heute Berlin anschauen, ist das ja wohl eher eine fremde Stadt für Sie, oder?

Wissen Sie, als ich damals in Berlin war, ging ich ja noch in die Schule, das Leben spielte sich vor allem in unserer sehr großen Verwandtschaft ab. Und was kannte ich schon von Berlin? Ich bin kaum im Theater gewesen. Als ich anfing, als ich das alles hätte erleben können, war es für mich ja schon zu Ende. Also, was kannte ich von Berlin eigentlich?

Insofern ist das, was Sie jetzt entdecken, eine neue Stadt?

Ja, eine neue Stadt.

Und gefällt Ihnen diese Stadt?

Ja, ich liebe sie auch.

Was gefällt Ihnen denn an Berlin?

Es ist gemütlich.

Für eine New-Yorkerin?

Genau. Die hohen Häuser und dieses Unpersönliche in New York, das Kühle, das Freundlich-Oberflächliche vielleicht, das hat mich nie sehr begeistert. Aber was kannte ich schon von Amerika?

Es ist Ihnen sehr wichtig, als Zeitzeugen in Schulklassen von Ihrem Leben zu erzählen. Erleben Sie da auch Situationen, die Sie betrüben?

Nein. Ich habe wirklich, wirklich, unglaublich gute Erfahrungen gemacht. Es ist sehr, sehr erfreulich. Es ist genau das, was ich mir gewünscht hatte, warum ich nach Deutschland zurückgekehrt bin und warum ich das tue, was ich tue.

Sie haben gesagt, dass Sie neben Ihrem Mann in New York beerdigt werden wollen. Warum ist Ihnen das wichtig?

Gefühlsmäßig. Mein Herz. Wir haben nach sehr schweren Erlebnissen uns ein Leben aufgebaut und ein wunderbares Leben gelebt. Ich finde, da gehöre ich hin. Zu ihm. Es hat nichts mit Amerika zu tun.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.