Heißhunger auf Leben

Er hat Nico entdeckt und Hildegard Knef, Zarah Leander und Andreas Baader fotografiert. „Blicke und Begehren“ heißt die rund 200 Schwarz-Weiß-Bilder umfassende großartige Retrospektive des Fotografen Herbert Tobias in der Berlinischen Galerie

VON ACHIM DRUCKS

Eine Frau im weißen Abendkleid, das Chiffon-Cape weht im Wind. Außer dieser überirdisch eleganten Lichtgestalt ist alles in Schwarz getaucht: der Anzug ihres Begleiters, das Heck einer Limousine, der Himmel. Nur ein paar Neonreklamen leuchten. Selten sah der Ku’damm so glamourös aus wie auf diesem 1958 entstandenen Modefoto. Virtuos hat Herbert Tobias (1924–1982) die Komposition aus Hell und Dunkel inszeniert. Sie wurde zu einem der bekanntesten Bilder des Fotografen. Sein Lebenswerk stellt jetzt die Berlinische Galerie in einer großartigen Retrospektive vor – von den Aufnahmen, die er als 19-jähriger Soldat an der Ostfront macht, über die eindringlichen Porträts von Hildegard Knef oder Zarah Leander bis zu den Männerakten der Siebzigerjahre.

Ende der Fünfziger ist der Fotograf auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Viel beschäftigt, obwohl er oft abtaucht, um, wie es ein Freund formulierte, einen „Heißhunger auf Leben“ zu stillen. Was zwangsläufig zu Problemen führt: Die Polizei verhört ihn, registriert Tobias in ihrer Homosexuellen-Kartei. Irgendwann erträgt er den Widerspruch nicht mehr – einerseits die Modeträume der Wirtschaftswunderjahre in Szene zu setzen und andererseits als schwuler Mann kriminalisiert zu werden. In den frühen Sechzigern kommt dann der radikale Bruch: Tobias hört fast völlig auf zu fotografieren, versucht sich nicht sehr erfolgreich als Schauspieler und Sänger, gerät zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten.

In dieser Zeit entsteht sein wohl bekanntestes Bild. Es ist Teil der Sektion Einsamkeit – die rund 200 Schwarz-Weiß-Bilder der Schau sind nach Leitmotiven gruppiert, die sich durch das gesamte Werk ziehen. Es könnte aber genauso gut auch bei den Posen hängen. Ein Ersatz-Marlon-Brando mit nacktem Oberkörper blickt melancholisch-lasziv in die Kamera des Mannes, der ihn begehrt. Der Fotograf hat ihn angeblich in einer Stricherkneipe kennen gelernt. Es ist der junge Andreas Baader, der vor einem weißen Hintergrund sitzt. Neben ihm ragen ein paar dürre Zweige ins Bild, die scheinbar Schatten auf seinen Oberarm werfen. Tun sie aber nicht. Tobias hat die dunklen Linien hineinretuschiert. Wie Blut, das den Arm hinunterrinnt. Als im Stern Jahre später ein seiner Meinung nach undifferenzierter Artikel über die RAF erscheint, schreibt Tobias für die Schwulenzeitschrift him applaus einen Text, in dem er sich klar von der Gewalt der Terroristen distanziert, gleichzeitig aber die fehlende Auseinandersetzung mit dem Faschismus für deren Entstehung mit verantwortlich macht.

Konflikte nicht nur mit der Gesellschaft und das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, begleiten Tobias sein Leben lang. Schon als Kind nutzt er die Fotografie als Mittel, der kleinbürgerlichen Familie zu entkommen, in der er sich als Fremdkörper empfindet. Glücklich ist er nur, wenn er mit seiner Plattenkamera „an irgendeinem Bach Sumpfdotterblumen fotografieren konnte“. Nach Ende des Krieges hat er sein Coming-out, erlebt Demütigungen und Diskriminierung: Die Nazi-Zeit ist überstanden, doch für Schwule bleiben die Repressionen bestehen. Als sein Freund wegen einer Denunziation den Job verliert, gehen die beiden nach Paris. Der Lover schenkt ihm eine Rolleiflex, und der Autodidakt beginnt, die Stadt mit der Kamera zu erkunden. Interessanter als die leicht surrealistisch angehauchten Straßenszenen sind Tobias’ inszenierte Aufnahmen. Verstohlene Blicke und Gesten, nächtliche Begegnungen unter dem Arc de Triomphe – Paris wird zur Kulisse einer schwulen Lebenswelt.

Mit Bildern für die Vogue beginnt seine Laufbahn als Modefotograf. Doch als er beim Cruisen an einen Zivilpolizisten gerät und sich handfest gegen seine Verhaftung wehrt, wird Tobias’ Aufenthaltsgenehmigung wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt nicht verlängert. Er muss nach Deutschland zurückkehren. Mit Aufnahmen, von deren „giftig-süßer Erotik“ die Kritiker schwärmen, hat er auch hier Erfolg. Und er entdeckt Nico. Die spätere Velvet-Underground-Sängerin wird zu einem seiner bevorzugten Models.

Der Titel der Schau, Blicke und Begehren, ist perfekt gewählt. Gerade die jungen Männer, die Tobias ablichtet, schauen oft direkt in die Kamera. Fixieren den Fotografen mit ihren Blicken, mal unsicher, mal melancholisch, wissend oder verführerisch. Es sind erotisch aufgeladene, intime Momente. Subtil ausgeleuchtete Aufnahmen, die von den Sehnsüchten des Fotografen erzählen und seinem Begehren, das ihn in der Adenauer-Ära zwangsläufig zum Außenseiter macht. Mit der neuen Freiheit in den Siebzigern entstehen deutlich offensivere Bilder – Ledermänner beim Sex in abgerockten Fabrikhallen. Doch auch in der aufblühenden hedonistischen Schwulenszene fühlt sich Tobias fremd, empfindet sie als intolerant und spießig. 1982 stirbt er. Es bleiben seine Fotografien, die mit einem Bild einen ganzen Film erzählen können.

Bis 25. August, Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124–128, Mi.–Mo. 10–18 Uhr, Katalog (Steidl Verlag) 35 Euro