Im Dschungel der Klänge

HÖREN Die Musiker Min Stiller und Alex Paulick gestalten in der Kreuzberger Naunynstraße einen Raum für intensive Klangerlebnisse

Mitten in Kreuzberg, einige hundert Meter vom Kottbusser Tor entfernt, kann man sich im Dschungel verlieren – im Dschungel der Klänge. Doch nicht nur die Großstadt stimmt hier ihre mannigfaltige Geräuschkulisse an. In der Naunynstraße wartet derzeit ein schier undurchdringliches Dickicht aus Klängen darauf, erkundet und durchwandert zu werden.

Hier hat der Musiker und Komponist Alex Paulick zusammen mit seiner Bandkollegin Min Stiller einen temporären Hörraum eingerichtet. Der Galerieraum, in dem sonst unter dem Namen „Gartenstudio“ soziale Kunst präsentiert wird, mutiert seit Mitte Juli für einen Monat zu einer Geräuschkulisse der besonderen Art. In der Mitte des Raums stehen drei mit weißen Leinen überspannte Hocker, auf denen auditive Abenteurer Platz nehmen können. Umgeben werden die Sitzgelegenheiten von fünf Regalen, in welchen Kakteen, ein riesiges Wollknäuel, Omas Einmachgläser und mehrere Hängepflanzen Platz finden. Das alles – und sieben Lautsprecherboxen.

Aus diesen strömen jede Woche von Dienstag bis Samstag eigens für dieses siebenkanälige Klangerlebnis komponierte und arrangierte Tracks von Paulicks und Stillers Band Narrow Bridges und anderen Künstlern. Die Idee zu dem Projekt kam den beiden Musikern nach einer Einladung der Pariser Société de Curiosités im Jahr 2009, wo sie erstmals mit einem siebenkanäligen Soundsystem in Berührung kamen. Diese ausgeklügelte Boxen- und Klanganlage lässt Dolby Digital wie Muttis Küchenradio klingen. Aus allen Winkeln des Raums schleicht sich Schall in seinen unterschiedlichsten Facetten an die Ohren der Zuhörer heran. Mal sind es menschliche Stimmen, mal das helle Klopfen eines Xylofons, dann wieder verzerrtes Kreischen und Kratzen, das an die akustische Untermalung einer Horrorszene bei Alfred Hitchcock erinnert.

Den Auftakt machen Narow Bridges mit ihrem 12-minütigen Stück „Tide/ Time“. Das musikalische Konzept ihres neuen Albums „Degree of Separation“, das am 3. August veröffentlicht wird, umschreibt Paulick als „polyrhythmische Strukturen, die sich in einzelnen Rhythmen überlappen“. In etwa so verhält es sich auch mit den Klängen im Gartenstudio. Die musikalische Bandbreite entzieht sich dabei allen Kategorisierungen. Da tragen etwa Narrow Bridges ihre harmonische Mixtur aus elektronischer Musik, Folklore und einer Brise Latin an den Zuhörer heran. Kurz danach sträuben sich diesem die Nackenhaare, wenn er mit der avantgardistischen Neuen Musik von Marcus Schmickler konfrontiert wird. Der experimentiert mit Lautstärke, erzeugt rein klanglich ein fast schon greifbares Unbehagen, das sich wie Stiche mit dünnen Nadeln im Gehörgang festsetzt.

Ein anderes Stück kommt von Barbara Morgenstern und dem Chor der Kulturen der Welt. Am Anfang macht sich im Zuhörer eine Ahnung davon breit, wie sich womöglich eine ausgeprägte Schizophrenie anhören könnte. Aus allen sieben Boxen dringen Stimmen an das Ohr. Nichts kann man verstehen, nichts lokalisieren, nichts einordnen. Ein wild prasselnder Regen aus unverständlichen Einflüsterungen, fast fühlt man sich an Fausts Ausflug zur Walpurgisnacht erinnert, so unfassbar umspielen einen die fremden Stimmen.

Kurze Zeit später singt Barbara Morgenstern auf einem elektronischen Beat „Jedenfalls verändert sich/ mit der Zeit/ meine Sprache, mein Gehör“. Damit liegt sie zweifellos richtig, zumindest was das nachhaltige Klangerlebnis im Gartenstudio angeht.

Am heutigen Abend steht der Beitrag der Hamburger Band Kante auf dem Programm. Hervorgegangen aus der Hamburger Schule, bestechen Kante heute vor allem durch musikalische Experimentierfreude. Ihre Musik ist eine schwer greifbare Mixtur aus Indierock, HipHop, Folk, Jazz, afrikanischer Feldmusik und Elektronik. Eine Band also wie gemalt für eine musikalische Achterbahnfahrt im Kreuzberger Hörkabinett. Einzig der quietschende Holzdielenboden des Gartenstudios muss für das ungefilterte Hörerlebnis noch überwunden werden.

TOBIAS NOLTE

■ Die nächste Präsentation findet heute Abend mit Stücken von Kante und Bacchus Marteau statt. Der Hörraum hat noch bis zum 14. August immer von Dienstag bis Samstag (15–19 Uhr) geöffnet. Und das Beste: Der Eintritt geht aufs Haus