Beim Gespräch über Marx und Hegel

SPÄTKAUF Alex Ross’ Low-Budget-Film „Tom Atkins Blues“ mischt Dokumentarisches und Erfundenes, um von der Gentrifizierung in Prenzlauer Berg zu erzählen. Die Helden erinnern an die Figuren aus Nick Hornbys „High Fidelity“, sind aber keine Slacker

Die neuen Nachbarn waren zum Abschiedsfest eingeladen. Statt zu kommen, riefen sie die Polizei

Vor der Wende war alles anders in Berlin. Wer im Westen nachts noch was brauchte, ging in die Tanke. Im Osten ging man in den Spätkauf. Obgleich das Bier in den Kneipen nicht teurer war als in den Geschäften. Der Spätkauf ist jedenfalls ein Ostphänomen. Meist waren die Spätverkaufsstellen bis 21 Uhr geöffnet, damit auch Schichtarbeiter nachts einkaufen konnten.

Auch nach der Wende gab es Spätis viele Jahre fast nur im Osten. Nun haben sich die Spätverkaufsstellen auch im Westteil der Stadt durchgesetzt. Es gibt sie an jeder Ecke, dazu noch die Supermärkte, die oft bis zwölf Uhr nachts offen sind. Das macht es dem Späti schwer, der im Übrigen auch längst die Funktion der Eckkneipe übernommen hat. Alex Ross’ Film „Tom Atkins Blues“ erzählt von einem Späti in Prenzlauer Berg, in der Nähe des Teutoburger Platzes, der Anfang der 90er von einem ziemlich netten Engländer, Tom Atkins, eröffnet wurde und nach 13 Jahren, bedrängt von einem Kaiser’s Markt, schließen muss.

Im strengen Sinne ist „Tom Atkins Blues“ kein Dokumentarfilm; die Hauptfigur wird – sehr schön – vom Regisseur selbst gespielt, der früher in der Choriner Straße ein Spätkaufhostel betrieb.

Der Low-Budget-Film wurde in acht Tagen auf Digitalvideo gedreht; er vermischt dokumentarische Realität mit gespielten Szenen und führt von den frühen 90ern, als Prenzlauer Berg noch ein abgerocktes Eldorado von Künstlern, Punks und anderen Habenichtsen war, bis zur schicken Jetztzeit. In Genreszenen kommt die Vergangenheit vorbei; abends sitzt man vor dem Späti zusammen, trinkt Bier, raucht einen Joint, unterhält sich, das Licht ist romantisch. Der Spätibetreiber spielt Reggaeplatten. Die, die als Kinder sich hier ihre Cola holten, sind jetzt ständig betrunken. Kalle, der Mitarbeiter, will mit jeder hübschen Frau anbändeln.

Tom Atkins und sein Mitarbeiter Kalle sind Mittvierziger. Die Helden sind typisiert: Es gibt den, der immer betrunken ist, Walter, den Buchhalter, der jeden Abend kommt, um Nudeln und Zigaretten zu kaufen – irgendwann wird er durchdrehen –, Viktor, der mal Fleischer war, die Exfreundin von Tom Atkins, die dem Ladenbetreiber mangelnden Ehrgeiz vorwirft und nun mit einem besser verdienenden Mann zusammen ist, die Exfrau von Kalle, die sauer ist, weil der seine Alimente nicht bezahlt. Ab und an kommt auch mal eine Touristin vorbei, die sich verlaufen hat. Der Laden sieht wunderschön und romantisch aus. Alles ist ein kleines, sympathisches Kiezidyll.

In den dokumentarischen Szenen sitzen Anwohner auf der Eingangstreppe und erzählen, was ihnen der Spätkauf bedeutete oder wie sie sich dort – beim Gespräch über Hegel und Marx etwa – kennengelernt haben. Jemand sagt, die neuen, reichen Nachbarn in ihren bunten Häusern könnten das Leben eigentlich nicht genießen, weil sie als Erfolgsmenschen viel zu pragmatisch seien. Das mag ein Klischee sein, leuchtet aber unmittelbar ein.

Alex Ross erzählt sehr sympathisch, humorvoll und schön von seinem Laden und den Veränderungen im Kiez. Die Helden seines Films erinnern manchmal an die Figuren aus Nick Hornbys „High Fidelity“. Aus Berliner Sicht wirken sie aber gar nicht so slackermäßig; sie arbeiten schließlich mehr als zwölf Stunden am Tag, auch wenn sie dabei viel herumsitzen, lesen und sich mit ihren Kunden unterhalten.

Am Ende möchte sich der Späti mit einem Fest verabschieden. „Wir wollten alle Nachbarn einladen. Doch die haben die Polizei gerufen, bevor es richtig losging. Das sagt alles über die neue Nachbarschaft.“ DETLEF KUHLBRODT

■ „Tom Atkins Blues“. Regie: Alex Ross. Mit Alex Ross, Megan Gay u. a. Deutschland 2009, 78 Min.