Die Kunst der Beobachtung

DOKUMENTARISCHE FILME Thomas Heise präsentiert in der Akademie der Künste die jungen Filmemacherinnen Serpil Turhan und Bettina Büttner

Jeder Regisseur hat seine eigene Handschrift. Der eine arbeitet viel mit Licht und Schatten, ein anderer liebt die unruhige Handkamera. Am Montagabend präsentierte Thomas Heise, bekannt für eigenwillige Filme, die jungen Regisseurinnen Serpil Turhan und Bettina Büttner in der Akademie der Künste. Obwohl sich die Dokumentationen der beiden Filmemacherinnen inhaltlich unterscheiden, haben sie eine Gemeinsamkeit: die Kunst der Beobachtung.

Turhans Film „Herr Berner und die Wolokolamksker Chaussee“ erzählt die Geschichte eines alten Mannes, den ein Theatertext in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückführt. Nur mühsam und mit großer Lupe liest Herr Berner die Sätze aus Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“. Der Text handelt von der Schlacht um Moskau 1941. „Am Anfang war es nur ein Audioprojekt. Ich habe jemanden gesucht, der diese Sätze lesen kann“, erzählt Turhan. Dann kam eins zum anderen. Die Regisseurin trifft Herrn Berner, der Müllers Text nicht nur liest, sondern immer wieder in seine eigenen Kriegserinnerungen abschweift. Aus seiner Erzählung macht sie schließlich einen Film. Sie dreht auf 16 mm, entwickelt den Film von Hand, was die Kratzer und schwarzen Flecken erklärt, und verknüpft anschließend Bild- mit Audiomaterial.

Doch was den Film vor allem auszeichnet, ist seine Entstehung. „Rückwärtsrecherche“ nennt es Turhan, weil sie erst während der Dreharbeiten herausfand, was hinter der Geschichte des alten Mannes steckt. Unbekümmert erzählt Herr Berner, wie er bei der Waffen-SS war, und betont dabei, nie auf jemanden geschossen zu haben. Fast schon unheimlich wird es, wenn der alte Mann immer wieder davon spricht, dass er sich nichts vorzuwerfen habe. Nur den Umzug ins Altersheim, den bereut er.

Turhan insistiert nicht, überhaupt stellt sie sehr wenige Fragen, lässt Herrn Berner Freiraum, lässt ihn seine Geschichte erzählen, seine eigene Wahrheit. Sie urteilt nicht, klärt aber den Zuschauer über die Realität der Waffen-SS am Ende dieses Films auf. Schrifttafeln erzählen, welche Verbrechen die SS-Kavalleriedivision, der Herr Berner angehörte, tatsächlich begangen hat.

Ähnlich ruhig und behutsam agiert Bettina Büttner in ihrem ersten Film „Kinder“. Die Regisseurin erzählt von ihren Erlebnissen in einem Kinderheim. Sie wertet nichts, beobachtet nur. Das Versteckspielen im Wald, Streitereien auf dem Fußballplatz. Die Kinder spielen mit der Kamera, buhlen um ihre Aufmerksamkeit. Das Bemerkenswerte an „Kinder“ ist, dass trotz dieser Inszenierung Büttner eine ungeheure Nähe zu den Protagonisten aufbauen kann. Drei Monate verbrachte die Regisseurin im Kinderheim, manche Szenen sind so intim, dass es der Zuschauer kaum ertragen kann. Das Publikum leidet durch das Auge der Kamera mit, wenn es mit ansehen muss, wie eine Mutter und ihr Sohn Marvin streiten. Im Klammergriff hält die Frau ihr Kind fest, bis es vor Schmerzen weint. Unendlich lange dauert diese Einstellung. Die Kamera ruht dabei ganz nah auf Marvins Gesicht oder dem der Mutter. Man soll die Verzweiflung spüren, die beide empfinden. Die Mutter liebt ihr Kind, ist aber am Ende ihrer Kräfte. Marvin dagegen fühlt sich nicht verstanden, ist wütend. „Dieses Ringen ist die einzige Form der Berührung, die die beiden haben. Das soll auch uns wehtun“, erklärt Büttner nach der Vorführung ihres Films.

Was Heise an beiden Filmen schätzt, ist die Offenheit, die sie an den Tag legen. Ungewöhnlich und erfrischend ist die Art, wie Turhan und Büttner arbeiten. Beide Frauen studieren an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Die übernahm auch die Finanzierung der beiden Filme. Bleibt nur noch zu hoffen, dass es nicht bei einer Vorführung in der Akademie der Künste bleibt und die Handschriften der beiden Filmemacherinnen auch in deutsche Kinos gelangen.

JULIA SCHWEINBERGER