„Man muss nicht immer erst Gott fragen“

LITERATUR Aurélie Herbelot und Eva von Redecker lassen einen Computer Lyrik schreiben und gründen einen Verlag, Peer Press. Ein Gespräch über Suchprogramme, Hamster im Auto, Regenschirme und Kannibalismus

■  Aurélie Herbelot ist Computerlinguistin und forscht zurzeit als Alexander-von-Humboldt-Stipendiatin am linguistischen Institut der Universität Potsdam. Sie hat 2010 in Cambridge promoviert und im April dieses Jahres mit Eva von Redecker den Peer Press Verlag gegründet.

■  Eva von Redecker, wissenschaftliche Mitarbeiterin am philosophischen Institut der Humboldt-Universität Berlin, schreibt ihre Dissertation über Theorien radikalen sozialen Wandels.

INTERVIEW MARGARETE STOKOWSKI

taz: Eigentlich wollte ich mich gar nicht mit Ihnen verabreden, sondern mit O.S. le Si.

Eva von Redecker: Das wird schwierig. Er ist zwar der Autor unseres Buches, aber erstens ist er in England und zweitens glaube ich, er ist tot. Er war schon länger ziemlich kaputt und hatte auch nur 2 GB RAM.

Sie haben von ihm den Lyrikband „discourse.cpp“ veröffentlicht. Wie sind Sie darauf gekommen, einen Computer Gedichte schreiben zu lassen?

Aurélie Herbelot: Das fing mit meiner Magisterarbeit an, da habe ich über Taxonomie geschrieben, also Klassifikationsmuster. Es ging darum, dass der Computer Tiernamen automatisch in Artenstammbäume fügen sollte. Das ergab viele bizarre Sätze.

Zum Beispiel?

Herbelot: So etwas wie „Der Nackenstachler ist ein Agamen“. Ich mochte schon immer dadaistische und experimentelle Gedichte, und die Ergebnisse sahen so aus. In meiner Doktorarbeit habe ich daran weiter gearbeitet und ein Programm geschrieben, das große Textmengen durchsucht und zeigt, welche Kontexte für bestimmte Wörter charakteristisch sind. Wenn man „Auto“ eingibt, dann kommen Begriffe wie „Wagen“, „Fahrrad“, „Motorrad“ und „Hamster“.

Hamster?

Herbelot: Ja, weil Hamster auch Räder haben. Ein Hamsterrad hat mit einem Autorad nicht viel zu tun, aber sprachlich sind sie verwandt. Ich suche als Computerlinguistin solche Beziehungen. Wenn man „Homosexualität“ eingibt, kriegt man als Erstes „Kannibalismus“. Manche Leute sagen eben, beides sei pervers und schade der eigenen Gattung.

Sie haben 200.000 Seiten aus der englischen Wikipedia analysiert und dann kommt raus, dass die Leute über Homosexualität so denken wie über Kannibalismus?

von Redecker: Ganz so ist es natürlich nicht. Aber viele der Gedichte haben schon einen hohen Erkenntniswert, denn sie zeigen, was Menschen zu einem Thema mit welchen Worten sagen. Es ist eine Mischung aus Diskursanalyse und Surrealismus: Bloße Assoziationen werden freigelegt und man sieht das Unterbewusste von Millionen von Leuten.

Dabei kommt aber auch vieles raus, was man gar nicht wissen will.

Herbelot: Häufig werden ganz schlimme Klischees dargestellt, klar. Aber manchmal erhält man auch Lebensweisheiten, wie in dem Gedicht „The Umbrella“.

Das ist eines der kürzeren Gedichte: „You want an umbrella and all you have is / a flannel handkerchief and a sponge.“ (dt.: „Du willst einen Regenschirm und alles, was du hast, ist / ein Flanelltaschentuch und ein Schwamm.“)

Herbelot: Ich finde, das sagt so viel über das Leben.

Sie haben für das Buch einen eigenen Verlag gegründet: Peer Press, und ein Manifest für eine neue Verlagskultur geschrieben. Warum das alles?

von Redecker: Wir wollen mit dem Verlag ästhetische und politische Ideen verknüpfen, indem wir Kunst schaffen und eine neue Warenform anbieten. Als wissenschaftliche Autorin habe ich die Erfahrung gemacht, dass man bei der Veröffentlichung seiner Texte immer auch ein bisschen enteignet wird. Man gibt normalerweise alle Rechte an den Verlag ab.

Aber dafür kümmert sich so ein Verlag dann um alles.

von Redecker: Ja, aber man ist nicht mehr unabhängig. Man gibt sein Werk aus der Hand. Bei uns behalten die Schreibenden ihre Rechte und die Texte stehen unter Creative-Commons-Lizenz, jeder darf sie verbreiten und daran arbeiten.

Herbelot: Viele denken, es muss erst jemand von Suhrkamp kommen, damit ihre Texte in ein Buch reinkommen, aber das ist Quatsch. Man muss nicht immer erst Gott fragen, ob es so okay ist.

Peer Press als Alternative zu Suhrkamp?

Herbelot: Nee, wir wollen uns mit Suhrkamp gar nicht vergleichen. Suhrkamp ist so 20. Jahrhundert. Das ist okay, aber wir sind anders.

Sie nennen den Verlag „mutualistisch“. Was heißt das?

von Redecker: Das heißt, dass bei uns alles auf gegenseitiger Unterstützung basiert. Unser großes Vorbild ist die Open-Source-Community. Und wir sind anarchistisch, weil wir nicht mit Regeln und Hierarchien arbeiten, sondern mit freien Vereinbarungen und diffusen Kooperationen.

Was kommt als Nächstes von Peer Press?

von Redecker: Wir planen eine ganze Liste deutscher und englischer Bücher. Als Nächstes einen Roman über den Prager Frühling aus der Sicht eines Klappmessers. Dann soll es einen Bildungsroman über die Renovierung einer Weddinger Wohnung geben und ein Buch zum Deutschlernen mit Queer-Porn-Geschichten.