Das Glitzerding strahlt wie neu

ARCHITEKTUR Der Modernismus wird verschrien, alte Schlösser werden wieder aufgebaut? Das war gestern. Junge Stadtplaner aus ganz Europa würdigen die Nachkriegsmoderne als Zeit, die sich was traute

Die Mischung aus Understatement und Egalität mutet heute geradezu utopisch an

VON RONALD BERG

„Das Neue Kreuzberger Zentrum in Berlin ist Ausdruck einer neuen Utopie.“ Das war die wohl steilste These, die auf der internationalen Konferenz zur Nachkriegsarchitektur in Europa geäußert wurde, die am Wochenende an der TU Berlin stattfand. Was an dieser Auffassung von Andrea Benze und Christian Dengler, beide Architekten und Stadtplaner in Berlin, stutzig machte, war weniger ihr Gehalt als ihr Tempus. Denn der zwölfgeschossige Koloss in der Mitte von SO 36 wurde, bevor er 1974 fertiggestellt war, sogar von Zeitungen wie der Welt als „Glitzerding“ herbeigesehnt.

Innerstädtische Großprojekte wie das NKZ galten bis Mitte der siebziger Jahre als Verwirklichung modernistischer Utopien: Licht, Luft und Sonne für alle war das Motto. Die Balkone der 300 Wohnungen am Neuen Kreuzberger Zentrum weisen allesamt nach Süden. Aber der betonierte Halbkreis des NKZ am Kottbusser Tor umschließt zugleich einen Platz, der zum Inbegriff für Verwahrlosung und Drogenelend geworden ist. Dem NKZ geben viele die Schuld daran. Dabei sollte das Zentrum eigentlich die Probleme im sozial schwachen Kreuzberg beheben. So manche Planung hat sich indes anders entwickelt als gedacht.

Spätestens seit den achtziger Jahren, als die traditionelle innerstädtische Blockstruktur als vermeintlich beste aller urbanen Welten wiederentdeckt wurde, galt das NKZ allgemein als „brutal und rücksichtslos“. Inzwischen aber stehe es für Wege der „pragmatischen Aneignung“, meinen Benze/Dengler: Mieter schüfen begrünte Dachgärten, neue Läden belebten die vorgelagerten Gewerbepavillons, Nachtleben und Gay Community machten den Ort zum „Testfeld für neue Ideen“.

Wenn das NKZ nun als Symbol einer „Kultur der Inspiration“ ausgerufen wird, dann hat sich der Zeitgeist wieder einmal gedreht. Zumindest scheint es so bei den europäischen Nachwuchswissenschaftlern zu sein, die am Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin zusammenkamen. Ziel war es vor allem, ein Netzwerk zu begründen, das die Forschung über Nachkriegsarchitektur bei Urbanisten und Denkmalpflegern zusammenführt.

Die beinahe zwei Dutzend Vorträge der Tagung machten den Bedarf an Austausch deutlich, arbeiten sich die Fachleute doch praktisch vor allem an einzelnen Objekten ab. Neben Forschungsergebnissen aus dem Märkischen Viertel erfuhr man vieles aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ob in Koper, der modernistisch ausgebauten Hafenstadt Sloweniens, oder im Fall des mazedonischen Skopje, das nach dem verheerenden Erdbeben von 1963 wieder neu aufgebaut wurde – hier wie dort mühen sich die Fachleute am Ort um Erhalt und Akzeptanz.

Was die „emerging scientists“ mit Altersdurchschnitt von 35 an der Nachkriegsarchitektur so fasziniert, sei vielleicht gerade eine „Sehnsucht nach Utopie“, vermuten Bilijana Stefanovska und Stephanie Herold. Dass Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre im Rest der Bevölkerung eher schlecht angeschrieben seien, folge nur der Konstruktion eines Image, meint Sebastian Haumann von der TU Darmstadt, welche die Tagung mitorganisiert hatte. Die Wirklichkeit etwa im Märkischen Viertel ist durchaus eine andere. Ironischerweise war an der Verteufelung solcher Siedlungen in Deutschland maßgeblich die APO beteiligt. 1968 geißelten Architekturstudenten der TU Berlin den sozialdemokratisch geförderten Massenwohnungsbau im Märkischen Viertel als Ausdruck des Kapitalismus. Einer der maßgeblich an der Planung des Viertels beteiligten Architekten, Oswald Mathias Ungers, war damals Lehrer der Protestler.

Überhaupt scheint die Kritik an der Moderne vor allem ein Generationsproblem zu sein. Die Söhne opponieren gegen die Väter, um sich an den Großvätern zu orientieren. 1968 waren die Modernisten die Väter. Mit der dann einsetzenden Postmoderne bis zur heutigen Rekonstruktionsmanie – ob beim Stadtschloss oder der Dresdner Altstadt – schaffte es die Kritik an der Moderne dann bis ins Establishment. Retro und Reko sind heute Mainstream.

Es gehe ihnen nicht um einen Retrokult moderner Stilformen, betonen Stefanovska/Herold deshalb ausdrücklich. Vielmehr sei es das Anliegen, die Nachkriegsarchitektur aus ihrer akuten Gefährdung zu retten. Seit die 68er-Generation an den Schalthebeln der Macht sitzt, wird die Moderne nämlich nicht nur verunglimpft, sondern auch rigoros abgerissen.

Eine biologische Lösung scheint wahrscheinlich. Die Amplitude von Wertschätzung und Ablehnung tendiert gegenwärtig zu einer erneuten Präferenz für das Moderne. Manche der jungen Stadtplaner outen sich als „Bungalow-Kids“. Solche Kindheitserfahrungen sind prägend – nicht nur im persönlichen Umfeld: Der Kanzlerbungalow von Sep Ruf von 1963 war ja nicht nur einfach eine Wohnform als Dienstsitz, sondern Inbegriff der bundesrepublikanischen Nachkriegskultur. Diese Mischung aus Understatement, Egalität und Prosperität aus Großvätertagen mutet heute in mancherlei Hinsicht geradezu utopisch an. Und so fühlen sich die akademischen Architekturexperten zwischen 30 und 40 – im geistigen Verbund mit den Aktivisten der subkulturellen Aneignung à la NKZ – als Avantgarde in Sachen Neubewertung der Moderne. Das ist zumindest schön modernistisch gedacht. Man schätze, so Stefanovska/Herold, die „starken Bilder“, die „gewisse Idealisierung“ und eine „Zeit, die sich getraut hat“.