Der eigene Blick

FESTIVAL Die „Marokkanischen Filmtage“ im Arsenal geben einen guten Überblick über die lebendige, vielfältige und oft gegensätzliche jüngere Produktion des Landes, in dem bis vor einigen Jahren nur Hollywood drehte

Im Jahr 2005 wurde in Marrakesch die erste Filmhochschule des Landes gegründet

VON EKKEHARD KNÖRER

Marokko ist kein leerer Fleck auf der Weltkarte des Kinos. Nur ist es vor allem mit fremden Bildern gefüllt. Mit Bildern, um genauer zu sein, die das Spektakuläre der marokkanischen Wüste für die Kinomärkte der Welt kapitalisieren. Von „Lawrence von Arabien“ bis „Babel“, von „Himmel über der Wüste“ bis zu „Asterix und Obelix“: In der marokkanischen Landschaft rund um das Städtchen Ouarzazate filmen sich Hollywood und europäische Studios seit Jahrzehnten Berge und Wüste in Gegenwart und Antike und Bibelgeschichte nach ihrem Gusto zurecht.

Wie das zugeht, bekommt man aus der Perspektive marokkanischer Statisten in der Doku „Cinema Ouarzazate“ vor Augen geführt. Für die Bewohner der Stadt, die sonst nur spärliche Einnahmequellen haben, fällt so ein Weniges ab, manchmal ist ein Dialogsatz darunter. Nacer zum Beispiel war schon bei „Lawrence von Arabien“ dabei. Mit Bewunderung erinnert er sich an den einzigen Regisseur, der allen gegenüber aufmerksam war. Für Pier Paolo Pasolini, der hier unter anderem „Oedipus Rex“ drehte, arbeitete Nacer nicht nur als Statist, sondern auch als Bodyguard. Davon spricht er gern und mit Stolz.

Marokko ist nominell eine konstitutionelle Monarchie und wurde von den jüngsten Aufständen im arabischen Raum mit mittlerer Stärke gestreift. Seitdem wurde eine neue Verfassung verabschiedet, mit deren Hilfe das Land in den Disziplinen Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Demokratie übers Radebrechen vielleicht endlich hinauskommt. In der jüngeren Filmproduktion, die die „Marokkanischen Filmtage“ im Arsenal in exemplarischen Beispielen vorstellen, stehen die Zeichen in jedem Fall schon länger auf Aufbruch. Im Jahr 2005 wurde in Marrakesch die erste Filmhochschule des Landes gegründet. Es gibt eine landeseigene Filmproduktion, längst dreht nicht mehr nur Hollywood hier. Erstaunlich vielfältig ist, was man in der Filmreihe zu sehen bekommt. Es kann kaum verwundern, dass die Produktion und die Regisseurinnen und Regisseure oft Verbindungen nach Frankreich und in andere westliche Länder haben.

Eine der interessantesten Figuren im aufblühenden marokkanischen Kino ist Nabil Ayouch. Er ist Franzose mit marokkanischem Vater, hat in Paris Theater gelernt, dann Werbefilme gedreht und wurde für „Ali Zaoua“ (2002), der von Straßenkindern in Casablanca erzählt, auf den Festivals der Welt sehr gefeiert. Als eher missglückt gilt der für Arte entstandene, in der Reihe gezeigte „Une minute de soleil en moins“ (2003). In Wahrheit ist das ein hoch interessant aufgemotzter Polizeifilm-Genre-Versuch um Drogen um Mord und um Liebe, mit Musik, die perkussiv abgeht, mit einer tollen Transe als Nebenfigur und einem vor lauter Glück abhebenden Auto. Allein die absichtlichen Rückprojektionen sind das Eintrittsgeld wert, zwei explizite (und beeindruckende) Sexszenen haben bislang die Aufführung in Marokko verhindert.

Lust am Hybriden

Seit einigen Jahren ist Ayouch in diversen Initiativen zur marokkanischen Filmförderung sehr aktiv. So hat er Talal Selhamis Debüt „Ayyam al wahm“ (Mirages, 2010) produziert: einen Reißer, der seinen fünf Protagonisten für eine Art phantasmagorisches Assessment Center in der marokkanischen Wüste vielleicht ewas viel Psychokram- und Gesellschaftskritikgepäck auflädt. Dennoch auch das ein Film, der einen mit seiner Lust am Hybriden bei den eigenen Vorurteilen zum nordafrikanischen Kino voll erwischt. Aber auch der klassische Autorenfilm lebt. In großer Nähe zum Dokumentarischen zeigt die Regisseurin Yasmine Kassari in „Arraguad“ (L’enfant endormi, 2004), was es für die zurückbleibenden Ehefrauen auf dem marokkanischen Dorf heißt, wenn die Männer als Illegale nach Spanien gehen, um dort ihr Geld zu verdienen. Mit großer Solidarität und Zurückhaltung filmt Kassari die Frauen auf ihrem in jeder Hinsicht verlorenen Posten.

Einer, der auszog, in Amerika als Filmregisseur Karriere zu machen, ist Hakim Belabbes. Er hat inzwischen ein paar mäßig aufsehenerregende Filme gedreht. „Ashlaa“ (Fragmente) ist eine sehr persönliche Zwischenbilanz, zugleich ein Porträt seines Vaters. Über Jahre hinweg filmt Belabbes einzelne Szenen in der marokkanischen Heimat, unkommentiert. In der Summe seiner Fragmente ergibt das einen berührenden Film, den mit einem Knaller wie „Mirages“ ästhetisch und inhaltlich gar nichts verbindet. Eine Filmkultur, die so Gegensätzliches hervorbringt, muss eine höchst lebendige Filmkultur sein.

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