Neue Wahrnehmungsintensität

ABENTEUER MUSIK Zu den Formen, in denen heute Tonkunst zur Aufführung gebracht wird, gibt es Klärungsbedarf. Die zwölfte Ausgabe des Festivals Club Transmediale steht unter der schlichten Überschrift „Live!?“

Die Veränderung zu früheren Ausgaben des Clubs ist seine dezentrale Ausrichtung

VON TIM CASPAR BOEHME

Um ein Haar wäre aus der Sache nichts geworden. Vor zwei Monaten stand noch nicht fest, ob es den Club Transmediale (CTM) 2011 wieder geben wird. Mit dem Hauptstadtkulturfonds war der Hauptsponsor weggebrochen, lange Verhandlungen und viele Anträge folgten. Schließlich entschied sich die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin, in deren Stiftungsrat auch der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit sitzt, in letzter Minute für eine Förderung. Vom 31. Januar bis zum 6. Februar kann man beim CTM also wie gewohnt Einblicke zum Stand elektronischer Musik in Theorie und Praxis gewinnen – mit Konzerten, Performances, Symposien und einer Ausstellung.

„Live!?“ klingt als Motto zunächst etwas lapidar, von einem Musikfestival sollte man schließlich erwarten können, dass dort in irgendeiner Form Tonkunst zur Aufführung gebracht wird. „Wir wollen aber noch einen Schritt zurückgehen und da anfangen, wo der Begriff ‚live‘ überhaupt erst in die Welt gekommen ist durch die Erfindung von technischen Aufzeichnungs- und Reproduktionsmedien“, sagt Jan Rohlf, einer der drei Kuratoren, zum diesjährigen Thema.

Tatsächlich ist „live“ ein Phänomen des Medienzeitalters und alles andere als statisch. Zunehmend werden Echtzeitprozesse in der Musik zu wichtigen Gestaltungsmitteln, mit denen Computer selbst zu „Performern“ werden können, wie Rohlf ausführt. Um Neuerungen dieser Art geht es ihm bei der Frage nach heutigen Formen von Live-Konzepten: „Kann eine Maschine eine Präsenz erzeugen, wie wir das bisher nur von menschlichen Performern kennen?“

Einen zentralen Programmpunkt des Clubs bildet daher die „CineChamber“ im Hebbel am Ufer 2. In dieser acht mal zwölf Meter großen Kammer erwarten die Besucher nicht nur audiovisuelle, sondern auch taktile Erlebnisse. Die CineChamber soll „eine Wahrnehmungsintensität herstellen, das Publikum umhüllen und sensorisch einbeziehen“. Auf diesem Wege sollen sich die Maschinen den menschlichen Interpreten als ebenbürtig erweisen. Neben „Live“-Aufführungen von Musikern, Sound- und Videokünstlern kann man nämlich dank der technischen Innovationen der CineChamber auch originalgetreue Reproduktionen von archivierten Echtzeit-Performances sehen und hören. Im Programm der Kammer wird so etwa das Werk „Play Thing“ der vor zwei Jahren verstorbenen Komponistin Maryanne Amacher zu sehen sein.

Eine große Veränderung gegenüber früheren Ausgaben des Clubs ist seine dezentrale Ausrichtung. Diesmal findet das Festival überwiegend in Clubs und Konzertsälen rund um das Kottbusser Tor statt. Musikperformances gibt es vornehmlich im Festsaal Kreuzberg und im West Germany, das Monarch dient als „Festivalbar“ mit DJs. Und die kleine Paloma Bar als „Küche der Party, wo sich alle irgendwann treffen“, wie Rohlf hofft.

Das Spektrum der vorgestellten Musik reicht wie immer von akademisch „ernster“ Musik bis zu neuen Formen der Clubmusik – diese Schnittstelle zu bieten, ist ein Hauptanliegen der Veranstalter. So gibt es neben einem Konzert mit dem amerikanischen Synthesizer- und Computermusikpionier Morton Subotnick oder der kammermusikalischen Reihe Palais Wittgenstein im HBC auch eine Clubnacht im Berghain, bei der Künstler des Dubstep-Labels Hyperdub avancierte Clubmusik präsentieren. Allen voran das Trio Darkstar, das mit seinem Debütalbum die Bassmusik aus dem Clubkontext lösen und in grandios fragilen elektronischen Pop überführen.

■ Die CTM-Ausstellung „Alles, was Sie über Chemie wissen müssen“ wird heute Abend um 19 Uhr im Kunstquartier Bethanien eröffnet; weitere Veranstaltungen vom 31. Januar bis 6. Februar, verschiedene Orte; www.clubtransmediale.de