Ein Weckruf an die Seele

TECHNO Stroboscopic Artefacts ist das Label von Luca Mortellaro alias Lucy, der seit zwei Jahren als Produzent von Berlin aus für Aufsehen sorgt. Heute erscheint sein eigenes Album „Wordplay for Working Bees“

Statt durchgehender Beats gibt es oft gar keine eindeutigen Rhythmen

VON TIM CASPAR BOEHME

Techno gilt gemeinhin als Musik, die Leute zum Tanzen zu bringen. Damit wird ihr zugleich oft jegliche weitere künstlerische Dignität abgesprochen. Dass sich auch ausgewiesene Akademiker dem geradlinigen Beat verschrieben haben und darin meist mehr sehen als eine reine Bewegungshilfe, sorgt bei Außenstehenden immer wieder für Überraschung.

Luca Mortellaro zum Beispiel lebt als Technoproduzent in Berlin, studierte aber bis vor wenigen Jahren an der Pariser École normale Linguistik und Kognitionswissenschaften. Was führt einen Studenten einer französischen Eliteuniversität an die Spree? Im Fall von Luca Mortellaro alias Lucy, der heute sein Debütalbum „Wordplay for Working Bees“ veröffentlicht, war es die Musik. Elektronische Musik, um genau zu sein.

Für die begeistert er sich schon seit seinem sechzehnten Lebensjahr. Auch während seines Studiums in Paris ließ ihn seine Leidenschaft nicht los. Er entschied, mit seinem Hobby Ernst zu machen und nach Berlin zu ziehen. Das war 2009. Im September 2009 erschien die erste Platte auf seinem kurz zuvor gegründeten Label Stroboscopic Artefacts. Lucy, der schon während seiner Zeit in Frankreich internationale Techno-Größen wie Derrick May, James Holden oder DJ Hell zu den Unterstützern seiner ersten Schallplatten zählen konnte, baute sein Label binnen weniger Monate zu einer gefragten Adresse des Genres aus.

Das Techno-Gefühl

Doch wie schafft man es, unter den Bergen von Veröffentlichungen mit seinem eigenen Programm herauszuragen? Wie Mortellaro betont, legt er großen Wert auf die Identität von Stroboscopic Artefacts. Allerdings hat er weniger einen bestimmten Stil als eine gewisse „Weltanschauung“ im Sinn, selbst wenn bei den Platten durchaus ein düsterer, basslastiger Tonfall vorherrscht. „Identität bedeutet für mich nicht Identität durch einen Sound. Ich möchte nicht in ein bestimmtes Genre einsortiert werden. Wenn ich sage, dass ich Technoproduzent bin, heißt das nicht, dass ich nur geraden 4/4-Techno mache. Techno ist eher ein Gefühl, eine Herangehensweise an Musik.“

Die Weltanschauung seines Labels genauer zu formulieren, hielte der Mann mit den ernsten großen Augen für den falschen Ansatz. „Vor allem ist es wichtig, eine bestimmte kulturelle Identität als Hintergrund zu haben. Es geht darum, das Terrain für die Künstler vorzubereiten. Auf dem können sie dann ihr eigenes Gebäude errichten. Ich verlange von ihnen nur, dass sie das Land darum herum respektieren.“ Dazu gehört auch das Mastering durch Giovanni Conti und Daniele Antezza alias Dadub, die ein Studio in Lichtenberg betreiben und selbst Musik auf dem Label veröffentlichen: „Ich sage meinen Künstlern immer, dass ihre Stücke nach dem Mastering sehr anders klingen werden. Es ist so, als würde man damit das „Stroboscopic Artefacts“-Logo auf die Platte kleben.“

Als Vorbild für seine Haltung nennt Mortellaro die „Artificial Intelligence“-Serie des britischen Elektronik-Labels Warp Records. Deren Alben sind für sich genommen sehr unterschiedlich, erst wenn man sie zusammen höre, ergebe alles einen Sinn. Ganz ähnlich betrachtet er die eigene „Monad“-Reihe, zu der Künstler wie Frank Martiniq oder der Produzent Xhin aus Singapur jeweils eine EP beigesteuert haben. Die Stücke bewegen sich zwischen tiefenbetontem Techno, Ambient und zerebraler Elektronik. „Die Musiker kamen mit sechs unterschiedlichen Produktionen, doch am Ende klang es homogen.“

Weite Öffnung

Homogen geraten ist auch Lucys eigenes Album, der erste Langspieler des Hauses, mit dem sich Mortellaro musikalisch weiter öffnet. Statt durchgehender Beats gibt es oft gar keine eindeutigen Rhythmen, und wenn, setzen sie stark verschobene Akzente. Beim Hören bewegt man sich durch melancholisch eingetrübte Assoziationsräume, die kaum Vorgaben machen, wie die Musik zu rezipieren ist.

„Ich sage daher, dass mein Album halb fertig ist. Ich habe die eine Hälfte gemacht, es ist ein offenes Produkt, das der Hörer vollendet.“ Lucy verfolgt mit seinem Album eine klare künstlerische Absicht. Für ihn ist es ein Beitrag zur Kritik an der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft, die den Alltag der meisten Menschen durchstrukturiert: „Ich hoffe, dass mein Album beim Hörer verborgene Stimmungen wecken kann. Wenn man Tag für Tag arbeiten muss, schläft sogar die Seele ein. Man hört auf, bestimmte Dinge zu fühlen. Und ich habe festgestellt, dass es nichts Stärkeres gibt als Musik, um sie aufzuwecken.“

■ Lucy: „Wordplay for Working Bees“ (Stroboscopic Artefacts)