Zwei Straßen und ein zugefrorener See

FILM Das Bedürfnis nach Weltflucht wächst – die melancholischen Filme der chinesischen Regisseurin Xiaolu Guo im Arsenal

In Peking sitzt der Drehbuchautor Hui Rao in einem langweiligen Apartment, lässt den Blick durch die vergitterten Fenster über die tristen Häuserfassaden gleiten und über öde Innenhöfe, in denen sich das Personal eines Restaurants zum Rauchen trifft. Er füttert den Goldfisch, schlurft in flauschigen Puschen zum Klo, schlurft zum Schreibtisch, durch seinen inneren Monolog erfährt man: Es will ihm nichts einfallen. Und dann denkt er sich doch die Geschichte eines Mannes aus. Es ist ein Mann, der seine Geliebte getötet hat und auf der Flucht quer durch China nach Mohe, in ein verschneites Dorf an der nördlichen Grenze Chinas zu Russland.

„How is your Fish Today“ aus dem Jahr 2006 ist der erste und vielleicht melancholischste Spielfilm der in England lebenden chinesischen Regisseurin Xiaolu Guo, die für ihren Film „She, A Chinese“ in Locarno 2009 den Goldenen Löwen gewann und derzeit als Stipendiatin des DAAD in Berlin weilt. Denn irgendwann verhärtet sich Mohe, eine Kleinstadt, in die sich höchstens wegen des Polarlichtes hin und wieder Touristen verlaufen, zum Heilsversprechen. Auch der Drehbuchautor selbst macht sich auf die lange Reise gen Norden – Mohe liegt etwa so weit von Peking entfernt wie Lissabon von Berlin. Während seiner Reise bekommt man es immer wieder mit dokumentarischen Einsprengseln zu tun, gefühlte Minuten versinkt man in die Betrachtung schönster Eisblumen an Zugfenstern – und zwischendurch erklären Reisende, warum sie sich Mohe so schön vorstellen. „Es ist nur so eine Idee“, sagen sie.

„Ein unbefleckter Ort“, sagt Hui Rao ein andermal und beschreibt so das Spiel der Regisseurin mit einem großen chinesischen Thema, das auch ihren Kurzfilm „Far and Near“ bestimmt – ein Film übers Heimweh, der heute ebenfalls im Arsenal zu sehen ist. In China, wo restriktive Traditionen, Leistungsdruck und Konsumterror die Menschen einklemmen wie ein Schraubstock, wächst das Bedürfnis nach Weltflucht. Immer mehr junge Kreative stilisieren sich zu Melancholikern. Sie erinnern an den rebellischen Ennui der europäischen Dekadents, aber auch an die Todessehnsucht der Romantiker. Sie können sich dabei auf eine lange Denktradition berufen. Denn bereits aus dem dritten Jahrhundert stammt die Geschichte der Sieben Weisen aus dem Bambushain, die aus der Weltlichkeit in die Wälder flohen.

Doch wie in vielen chinesischen Geschichten derzeit, die vom Eskapismus erzählen, ist auch die von Xiaolu Guo zum Scheitern verurteilt. Das letzte Viertel des Films verliert seine Protagonisten – den Drehbuchautor und den Mörder – völlig aus dem Blick.

Stattdessen wird das Leben in Mohe gezeigt, wie es jenseits jeder Projektion wirklich ist. „Es gibt keinen großen Platz, kein Restaurant und keine Bibliothek“, sagt der Drehbuchautor aus dem Off. „Nur einen Billardtisch, ein öffentliches Bad, zwei Straßen.“ Die Kamera, jetzt wieder völlig dokumentarisch, verfolgt das Leben in einer Schule, wo die Schüler in zerschlissenen Daunenmänteln auf dem Pausenhof Schlittschuh fahren. Cut. Ein alter Mann versucht, dem zugefrorenen See ein paar Fische abzuringen. Cut. Ein junges Paar sitzt gemeinsam am Küchentisch und feiern das Essen Biss für Biss. Cut. Mohe ist kein weißer Fleck auf der Landkarte. Hier gibt es keinen Platz für Romantik. Es ist einfach nur ein weiterer Ort, wo Chinas Abgehängte um ihr Überleben kämpfen.

SUSANNE MESSMER

■ „Far and Near“ (GB/China 2003) und „How Is Your Fish Today? (China/GB 2006) heute im Arsenal, Original m. engl. UT, anschließend Gespräch mit Xiaolu Guo. „She, A Chinese“ folgt am 30. Juni