Ihr unbekanntes Temperament

MALEREI Charlotte E. Pauly (1886–1981), als junge Frau weit gereist, von den Nazis verfemt, nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen, spät wiederentdeckt. Eine Schau in der Galerie Parterre erinnert an die Künstlerin

Von Anfang an widmete sich Charlotte E. Pauly den Motiven des einfachen Lebens

VON SARAH ZIMMERMANN

Sie ist unscheinbar, die kleine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahr 1975, die unter einem Vitrinenglas liegt. Die weißhaarige Dame, die darauf breitbeinig und mit angriffslustig vorgestrecktem Kinn in ihrem Wohnzimmer steht, blickt direkt in die Kamera. Sie trägt Hut und Schal, hat die Hände auf den Rücken gelegt und gibt hinter sich den Blick auf ein paar Wandgemälde frei.

Charlotte E. Pauly ist fast 90, als diese Aufnahme entsteht. Sie zeigt eine stolze Frau. Und eine Autorin und Künstlerin, die sich erst mit ihrem Spätwerk als echte Größe in der Ostberliner Kulturszene etablieren konnte.

An der Druckpresse

An der Druckpresse hatte Pauly über zehn Jahre nach Kriegsende begonnen, sich die Motive vorzuknöpfen, die sie als junge Frau in Spanien, Portugal und Vorderasien zu Papier gebracht hatte: Fischer, Händler, Zigeuner, Boote und immer wieder: das Meer. Die 1981 verstorbene Künstlerin bleibt diesen Themen bis zuletzt treu – und definiert sich doch noch einmal völlig neu.

Die detailverliebten Reiseaquarelle einer Frau Anfang 40 und die rauen Landschaften und Charakterporträts, mit denen eine über 70-Jährige ihre Erinnerungen in neue Formen gießt, sind in der Galerie Parterre am Prenzlauer Berg Seite an Seite zu sehen.

Als die 1886 in Schlesien Geborene in den zwanziger Jahren ihr Studium abschließt, will sie Deutschland schnellstmöglich hinter sich lassen. Pauly hat genug von der Stadt und vom Wachstum der Industrie, es zieht sie gen Süden, in die Natur. Unter dem Blick des spanischen Künstlers Daniel Vásquez Díaz entstehen auf der Iberischen Halbinsel bald ihre ersten wichtigen Aquarelle. Von Anfang an widmet Pauly sich dabei Motiven, in denen sie das einfache Leben sieht, „unverdorben von der europäischen Zivilisation“. Die Lieder von Federico García Lorca inspirieren die studierte Kunsthistorikerin, 1928 überträgt sie seine „Zigeuner-Romanzen“ ins Deutsche.

Und dann bricht sie von Andalusien aus zu ihrer letzten großen Reise vor der Machtergreifung der Nazis auf. In Damaskus, Beirut, in Persien und der Türkei will sie ihr Motivrepertoire erweitern. Die Aquarelle aus dieser Zeit haben etwas Märchenhaftes. Mit strahlenden Pinseltupfern fängt sie Straßenszenen, Schleier, Bartträger und Händler ein und konstruiert in diesen Momentaufnahmen, so Kunstwissenschaftlerin Anita Kühnel, eine „kraftvolle Poesie des Alltäglichen“. Als Pauly ihre Bilder Anfang 1933 in einer Ausstellung in Breslau präsentiert, zollt ihr die Presse Respekt. Trotzdem bleibt es ihr vorerst letzter Erfolg.

In der Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten ist kein Platz für Zigeuner und orientalische Farbexplosionen, Pauly erhält Ausstellungsverbot. Es folgen Jahre des Rückzugs, der inneren Emigration. Die Künstlerin malt Stillleben, sucht religiöse Zerstreuung bei den Quäkern und freundet sich mit Gerhart Hauptmann an. Die rastlose Reisende, die in schillernden Farben arabische Lebenswelten festhält, ist verstummt.

Hang zur Idealisierung

Erst 13 Jahre nach Kriegsende besinnt sich Charlotte E. Pauly in Berlin auf ihre frühe Kunst zurück. Dicke, knorrige Baumstämme, wellige Häuserdächer, Brandungen, quer gelegte, stürmische Pinselstriche, starke Farben im Duett mit Naturtönen. All die altbekannten Protagonisten tauchen in ihren Arbeiten plötzlich wieder auf. Aber in Monotypien, Lithographien und Kaltnadelradierungen wirft die über 70-Jährige sie reduziert und in völlig neuer Bildsprache aufs Papier. Sie hat einen Hang zur Idealisierung. Und lässt aus gekräuselten Lippen und verhärmten Blicken trotzdem Realismus sprechen.

„Ich bin ein buntes Wrack von beinah neunzig Jahren. Ein Kinderkarussell, auf dem sie gern fahren. Ich bin ein Temperament, mir selbst fast unbekannt. Jahrzehntelang durch diese Welt gerannt“, schreibt die Frau von der Schwarz-Weiß-Fotografie. Und man schaut auf den Mann mit Fez. Den Schuhmacher. Die in die Hocke gegangene Wäscherin am Fluss Und kann alles sehen: das Bunte. Das Verfallene. Das Temperament. Und Das-durch-die-Welt-Geranntsein.

Am 16. Oktober wird Anita Kühnel vor dieser Kulisse ihr neues Buch vorstellen: „Ein schlesisches Fräulein wird Weltbürgerin. Die Malerin und Schriftstellerin Charlotte E. Pauly in Selbstzeugnissen“. Und zeigen, wie sich Paulys Kunst auch in ihren Dichtungen, Aufsätzen, Tagebucheinträgen und Briefen findet.

■ Galerie Parterre, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg, bis 4. 11.