Verbote und Gebote

KUNST Strukturelle Gewalt erscheint wie maskiert und ist oft nicht personifizierbar. Wie sie aber doch darstellbar ist, beschäftigt die Künstler der Ausstellung „Barbaren der Oberschicht“ in der Galerie Ratskeller in Lichtenberg

Die Stellen der Verwundbarkeit in den Ordnungen systemischer Gewalt aufzeigen

VON MARCUS WOELLER

Als im Sommer 2011 im Londoner Bezirk Tottenham politische Demonstrationen zu gewalttätigen Ausschreitungen eskalierten, ließ sich Kenneth Clarke, der damalige Justizminister der konservativen Regierung von Premier David Cameron, zu dem Ausspruch hinreißen, dass sich hier das Wachstum einer „barbarischen Unterschicht“ beobachten ließe. Damit scherte er nicht nur friedliche Protestierer und kriminelle Plünderer über den Kamm des britischen Klassendenkens, sondern goss Öl ins Feuer einer nicht grundlos aufgewiegelten Bevölkerung, die nur partiell nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte.

Die undifferenzierte Aussage des Politikers konterkariert die Kuratorin Sabine Winkler mit dem Titel ihrer Ausstellung, die sie zurzeit im Ratskeller zeigt, einer städtischen Galerie des Bezirks Lichtenberg: „Barbaren der Oberschicht“. Sie hat Künstler eingeladen, die sich mit systemischer Gewalt auseinandersetzen – einer Gewalt, die von den staatlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Institutionen ausgeht, dabei aber wie maskiert erscheint und im Hintergrund bleibt. Einer Gewalt, deren Verursacher keine konkreten Personen mehr sind, nicht einmal fassbare Gruppen, sondern unkenntliche Aggressoren, gegen die sich zu wehren zunehmend schwerfällt. Einer Gewalt, die Winkler mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, als „unbefangen, systemisch, anonym“ beschreibt und für die die berüchtigten Schattenbanken, die das Finanzsystem korrumpieren und dabei nicht nur Einzelne ausbeuten, sondern ganze Volkswirtschaften ruinieren, das zurzeit wohl eklatanteste Beispiel sind.

Mit der ganz alltäglichen Macht der Bürokratie und insbesondere der Formularseligkeit des Amtsschimmels hat wohl jeder schon zu tun gehabt, der mal auf der Ausländerbehörde war. Meriç Algün Ringborg, eine in Schweden lebende Türkin, hat zu dem Thema das 560 Seiten dicke „Concise Book of Visa Application Forms“ produziert. Sie recherchierte dafür alle auf der Welt existierenden Antragsformulare für Einreisevisa. So blau gebunden wie die einst vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen Marx-Engels-Werke, liegt der Schinken auf einem Sockel, punktuell angestrahlt. Zur Lektüre liegen weiße Baumwollhandschuhe bereit, als gäbe es eine wertvolle Mittelalterhandschrift durchzublättern. Ringborg macht so den verklausulierten Mummenschanz deutlich, mit der staatliche Systeme die Kommunikation mit ihnen zu hemmen versuchen. Die rechtlichen Verbote und Gebote, die eine Migration eigentlich regeln sollen, werden zum Katalog eines behördlich organisierten Ausschlussmechanismus.

Das Kollektiv MigrafonA geht das Thema märchenhafter an: Es schickt ein amerikanisches Aschenputtel, sieben mit Hammer und Sichel ausgestattete Zwerge, den pseudoorientalischen Hadschi Bratschi, die Bremer Stadtmusikantinnen, die Emanze Pippi, den arabischen Teppichreiter Allahdin und eine kommunistische Rotkäppchen-Latina auf Comicreise. Wird die multikulturell-polyglotte Gruppe gegen die Staatsmacht auf die Barrikaden gehen oder das System zerschlagen können? Trotz vieler Rückschläge geben sie nicht auf und versprechen auf dem letzten Blatt der Zeichnungsserie, dass eine Fortsetzung folgt – ein allgemeiner Aufruf, sich Machtmissbrauch nicht kampflos zu beugen.

Die gelungene Ausstellung versammelt Videoarbeiten, Installationen, Fotos und Gemälde von elf internationalen Künstlern und Künstlerinnen, die Stellen der Verwundbarkeit in den Ordnungen systemischer Gewalt aufzeigen. Die konzerneigenen Ordnungstruppen von Disneyland sind beispielsweise gar nicht erfreut, wenn man wie Pilvi Takala als Schneewittchen verkleidet hereinmarschiert und die Hegemonie der selbsternannten Traumfabrik infrage stellt. Und die nicht nur systemische, sondern auch militante Gewaltbereitschaft der Partei Black Party offenbart sich, wenn man mit Søren Thilo Funder liest, wie oft das Wort Waffe in der Biografie eines ihrer Gründer vorkommt.

Auch dem Lichtenberger Ratskeller droht nun das System – in Gestalt der eigenen, SPD-geführten Bezirksregierung. Der Verwaltung drohen Sparmaßnahmen, das Kulturamt hat keine Planungssicherheit für 2013.

Momentan ist deshalb noch offen, ob die Leiterin Silvia Eschrich die Galerie als engagierte Plattform für zeitgenössische Kunst weiter etablieren und in eine sich entwickelnde kulturelle Landschaft Lichtenbergs einbetten kann. Der kämpferische Impuls der aktuellen Ausstellung scheint jedenfalls auf sie abgefärbt zu haben.

■ „Barbaren der Oberschicht – Maskeraden systemischer Gewalt“. Bis 18. Januar 2013, Mo.–Fr., 10–18 Uhr, Ratskeller – Galerie für zeitgenössische Kunst Lichtenberg, Möllendorffstr. 6