Die Schönen und die Schönheit retten

FOTOGRAFIE Schwestern, Tanten, Mütter, Großmütter, Freundinnen, Ehefrauen: Sie alle finden sich in der Fotosammlung „Frauen“ von Christian Hansen. In der Galerie im Turm bilden sie ein kollektives Bildarchiv

Je mehr man von den „Frauen“ sieht, umso stärker wirken sie. Eine Fantasie, gewiss. Aber sie besetzen in diesen privaten Bildern so viele Felder, dass ihre Gesellschaft autonom und unabhängig wirkt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Als die DDR noch jung war, ließen sich einmal zwei junge Frauen, schick in geblümten Stoffen und mit kurz geschnittener Dauerwelle, zusammen mit einer weißhaarigen Dame und einem Baby auf einem Balkon der neu gebauten Stalinallee fotografieren. Im Hintergrund sieht man das Frankfurter Tor. Viel erzählt das Bild – von einem glücklichen Augenblick, vom Lächeln von drei Generationen, von Aufbruchsstimmung in einem jungen Staat, vom Stolz auf eine neu gebaute Wohnung, von breiten Alleen mit wenig Verkehr. Und von einem Fotografen, so malt man sich aus, der mindestens einer der drei Damen von Herzen zugetan war, vielleicht gar der Vater des Kindes.

Jetzt ist das Bild Teil einer Ausstellung in der kommunalen Galerie im Turm am Frankfurter Tor. Aber nicht um lokale Geschichte geht es, sondern schlicht um: Frauen. Hunderte von Bildern hängen dicht an dicht an den Wänden, ein umlaufendes Band durch den ganzen Raum, und auf allen sind, in Schwarz-Weiß meistens und in Farbe manchmal, Frauen zu sehen: im „Wursteck“ Wurst verkaufend, im Faltboot, kichernd auf dem Sofa, am Meer und auf dem Berg, neben dem Eiffelturm, an der Sektorengrenze, als Virtuosin am Herd – hoch fliegt der Pfannkuchen durch die Luft, hinter Schnapsflaschen, beim Fasching, mit Hund.

Christian Hansen hat diese Bilder gesammelt, weil sie schön sind. Vor fünfzehn Jahren fing er an, beim Trödler und auf Flöhmärkten, manchmal auch aus dem Müll private Alben und Fotokästen zu fischen. Hansen, der als Illustrator für Kinder- und Lehrbücher arbeitet, hatte damals sein Atelier nahe der Bergmannstraße in Kreuzberg – in deren Trödelläden schaute er regelmäßig. 1998 gab er mit dem befreundeten Künstler Hans-Peter Feldmann eine Auswahl seiner Sammlung als Buch heraus, „1000 Frauen“. 35.000 Fotos hat er mittlerweile. Jetzt publiziert er eine zweite Auswahl bei Walther König und zeigt parallel die Ausstellung in der Galerie im Turm.

In der Fremde

Es wäre verführerisch, die Bilder zu sortieren. Zum Beispiel alle die zusammen, die eine Frau auf Reisen in einer klassischen Position zeigen, die Füße stocksteif nebeneinander gesetzt stehen sie befremdend immobil neben einem Denkmal oder vor einem Schiff, Flugzeug oder Bus. So gruppiert bekäme das leicht etwas unfreiwillig Komisches, so klein die Frauen, so groß die Welt, so schön, endlich unterwegs zu sein, und dann stehen sie doch in der Fremde rum wie ein Fremdkörper eben, der mit seiner Umgebung nichts anzufangen weiß.

Aber Hansen sortiert eben nicht, trennt nicht einmal in Vorkriegs- und Nachkriegszeiten. Als Highlights seiner Sammlung sieht er zum Beispiel Schnappschüsse leicht neben der Spur an, wenn die Fotografierte der Kamera noch den Rücken zuwendet oder ein unscharfer Kopf im Vordergrund des eigentliche Modell halb verdeckt. Auch die findet man verstreut über die ganze Ausstellung. Denn eine motivische Sortierung, glaubt Hansen, lege zu schnell eine schematische Betrachtung nahe, suggeriert zu viel Bedeutung, und die will der Sammler so offen wie möglich halten.

Vor den Bildern kann ich mich kaum gegen die Erwartung wehren, gleich der eigenen Mutter oder Großmutter zu begegnen. Familienalben sind sich ähnlich – jeder erkennt Haltungen und Situationen wieder. Sieben Jahrzehnte umfasst die Sammlung, aus den fünfziger und sechziger Jahren stammt viel. Und damit bildet sie auch einen Spiegel der Vergänglichkeit. Denn bevor Hansen das Material finden kann, ist es als Stoff der Familienerinnerung aussortiert worden, legte eine Generation keinen Wert mehr drauf, oder es folgte eben keine mehr. Sich der nicht mehr bewahrten Erinnerung anzunehmen, ihr ein neues Zuhause zu geben, auch das ist ein Motiv für den Sammler Hansen. Ganz nebenbei ist so auch ein Monument der analogen Fotografie entstanden.

Zuflucht für Erinnerungen

Die Bilder von Frauen, sagt er in einem You-Tube-Film, seien vielfältiger und interessanter als die von Männern. Man kann spekulieren, ob Männer oft die Kamera bedienten, wissen kann man es nicht. Dass aber diese Frauen nur ganz selten so aussehen, wie die Frauen in der professionellen Fotografie, das macht sie gerade so interessant. Je weiter entfernt der Alltag ihrer Umgebung von uns entfernt ist, mit desto mehr Lust betrachten wir die vollen Regale im Laden hinter der Verkäuferin, die Kurven der Automobilkarossen, die üppigen Muster von Tapeten und Stoffen.

Die „Frauen“ zu betrachten hat aber noch einen anderen Effekt. Je mehr man von ihnen sieht, umso stärker wirken sie. Eine Fantasie, gewiss. Aber sie besetzen in diesen privaten Bildern so viele Felder, dass ihre Gesellschaft irgendwie auch autonom und unabhängig wirkt. Auch darin liegt ein Vergnügen, das diese Sammlung bereiten kann.

Was fehlt? Nun ja, nicht die Originale hängen an der Wand, sondern neue Prints, ohne die unterschiedlichen Ränder und Papiere der alten Fotografien, ohne das feine Transparentpapier der Alben, ohne Flecken und ohne Kellergeruch. Das zu vermissen ist sicher nostalgisch. Aber das kann man vor der Sammlung schon werden.

■ Galerie im Turm, Frankfurter Tor 1, Di.–So. 12–19 Uhr, bis 17. Februar.

■ Das Buch „Frauen“, erschienen im Verlag Walther König, wird am 22. Januar ab 19 Uhr in einem Gespräch mit Bazon Brock und Christian Hansen präsentiert.