Die Klippe der Küchenpsychologie elegant umschifft

KINO Der Film „Die Besucher“ legt Entfremdungsprozesse innerhalb einer Familie offen – zwischen Ignoranz und Sprachlosigkeit

Die Versuchsanordnung: eine Familienaufstellung mit echten Familienmitgliedern

„Da ist doch nichts dabei, wenn ein Vater seine Kinder besucht.“ Das erste Mal fällt dieser Satz des 59-jährigen Chemikers Jakob (Uwe Kockisch) aus Schwarzheide, als er bei den von seinem Besuch überraschten Kindern am Frühstückstisch sitzt. Mantraartig betet er ihn runter. Doch er glaubt selbst nicht daran, das sieht man ihm an. Seit sieben Jahren hat er sie nicht mehr in Berlin besucht. Nun will er mitteilen, dass er arbeitslos geworden ist und die längst erwachsenen Kinder nicht mehr wie gewohnt unterstützen kann.

Den drei Kindern ist der Besuch des steifen, pflichtbewussten sowie ein wenig aus der Zeit gefallenen Vaters lästig, der mit dem Zug fährt, kein Handy hat und – ein wenig anachronistische Komik – entsprechend häufig aus der Zelle telefoniert. Die jüngste Tochter Sonni (Anne Müller) schämt sich für ihn vor ihrem Professor (Bernhard Schütz), der in Jakobs Alter ist und mit dem sie ein Verhältnis hat. Das ist ihr dunkles Geheimnis. Keines ist hingegen, dass sie Papas Liebling ist.

Zufrieden wirkt sie nicht, die Abhängigkeit von den monatlichen Zuwendungen der Eltern nagt an ihrem Ego. Noch mehr beim mittleren Bruder Arnolt (Jakob Diehl), der antriebslos die Scheine des Vaters einsteckt. Eine für beide demütigend anmutende Szene.

Auch die zunächst geerdeter wirkende Karla (Anjorka Strechel), Gärtnerin ohne Abitur, scheint von dieser merkwürdigen familiären Frustration angesteckt zu sein. Die Annäherungsversuche des schnuckeligen Kollegen Fabrice (Janusz Kocaj) unter der Gärtnereidusche bricht sie eher unmotiviert ab, als sie etwa abzuwehren oder eben zu erwidern. „Du brauchst niemanden, oder?“, fragt Fabrice. Doch das Gegenteil dürfte der Fall sein, denn die Älteste ist niemandes Lieblingskind. Dass sie als Einzige nicht am Tropf der Eltern hängt, ist ihr größter Stolz und ihr größtes Ärgernis zugleich.

Daneben agiert, um ständigen Ausgleich und ihren komplexbeladenen Freund bemüht, die sanftmütige Katharina (Irina Potapenko), seit drei Jahren Arnolts Freundin und von den Eltern höflich gesiezt. Fast wirkt der Film (Buch: Leis Bagdach und Constanze Knoche) mit seinem sehr überzeugenden Ensemble wie eine Versuchsanordnung, eine Familienaufstellung mit echten Familienmitgliedern. Doch dazu wirkt das, was man hier zu sehen bekommt, dann doch zu real: In dieser Familie schwankt die Kommunikation zwischen Ignoranz und Sprachlosigkeit. Da ist zum einen die passive Entfremdung zwischen den Eheleuten Jakob und Hanna (Corinna Kirchhoff): „Wie soll ich dich verstehen, wenn du nie mit mir redest?“ – „Also gut, reden wir miteinander“ – „Worüber willst du reden?“ – „Über nichts.“

Zwischen den Geschwistern herrscht eine eher aktive Form der Entfremdung. Sie kennen einander wohl, doch Eifersüchteleien untereinander, genährt noch durch eigene Unzufriedenheit, spaltet sie. So kommt, was kommen muss: Die bezüglich der diversen dunklen Geheimnisse anfangs noch aufrechterhaltene Komplizenschaft dem Vater gegenüber bröckelt und zerbricht beim gemeinsamen Abendessen. Ebenso wie die bis dahin mühsam gewahrte Fassade der Harmonie. Es kommt zum Eklat.

Von nun an taucht die Handlung in ein Wechselbad aus weiteren Zerwürfnissen, schließlich aber auch Annäherungen: kathartische Momente. Jede mit jedem und jeder gegen jede – die raschen Szenenfolgen sind ein gutes Mittel, den Blick für ständig neue Bündnisse und Grabenkämpfe zu öffnen: Die potenzielle Vielzahl an dynamischen Konstellationen wird bestens ausgereizt. „Die Besucher“ ist ein einfacher und kluger Schauspielerfilm, der die Klippe der Küchenpsychologie via Auslassung und Andeutung elegant umschifft.

ULI HANNEMANN

■ Vorpremiere am 24. Januar im Babylon Mitte, ab 31. Jan. in Babylon Mitte, Brotfabrik, Kino Spreehöfe, Union Friedrichshagen, Sputnik